Die Kinder von Ngome

Swasiland: Eine Million Einwohner, 80 000 Aids-Waisen

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Ein schmaler Pfad führt durch das Gras zum Anwesen der Kinder. Eine rot gestrichene Tür: In dieser Hütte schliefen die Eltern. Auf ihrem Bett liegt eine Decke mit Zebramuster; die drei Kinder benutzen das Bett nicht. Sie legen sich abends auf den Boden, auf eine Matte vor dem Bett, so wie früher. Am Kopfende stapeln sich alte Koffer, Sachen quellen heraus, Erwachsenen-Sachen. In einer Ecke ein Paar Männerschuhe, verstaubt.

Zinhle, die 15jährige Tochter, ist jetzt die Älteste. Sie sah jünger aus, als sie eben barfuss auf dem Graspfad davonlief, um ein Streichholz zu holen beim Nachbarn, zum Feuermachen in der Kochhütte. Der nächste Nachbar ist eine ganze Weile entfernt. Zinhle lief in ihrem gelben kurzen Kleid wie ein Kind, das auf eine Besorgung geschickt wird. Nur schickt sie sich jetzt selbst. Die beiden jüngeren Geschwister sind elf und acht, sie sind gerade auf dem Feld, zum Pflügen. Die Kinder-Familie hat ein Maisfeld, eine Kuh, vier Ziegen.

Es ist still hier, ab und an zirpscht ein Vogel; die nächste Asphaltstraße ist ein paar Stunden entfernt. Über einem Gatter hängt Wäsche zum Trocknen; dahinter fliegt der Blick ungehindert ins Weite, über geschwungene grüne Hügel und Felder, hier und da lugen die Köpfe von Rundhütten hervor, gelegentlich blinkt ein Wellblechdach. Eine großartige grüne Stille; zu still.

Die Eltern starben vor einem Jahr, zuerst die Mutter, wenig später der Vater. Die Krankheit, deren Namen die Kinder nicht kennen, hat auch die anderen geholt, Tanten, Onkel. War es vorher, nachher? Zinhle spricht leise, so leise, dass die Worte wie ein Hauch in der grünen Stille versinken. Jedenfalls sind sie jetzt allein. Wie fragt man Kinder nach dem Tod der Eltern? Es scheint obszön, die Stille zu zerreißen. Das Grab der Eltern ist dahinten, über dem nächsten Hügel. Zinhle streckt den Arm aus und schaut in eine andere Richtung, weg vom Hügel.

Nur die Wand spricht, eine Wand in der Hütte mit dem unbenutzten Bett und den verstaubten Schuhen. Mit roter Farbe, die übrig war nach dem Streichen der Tür, hat jemand auf die Wand gepinselt: „I love God." Daneben kleben Zettel, mit Psalmen und mit Klagen, von Hand geschrieben. „Du tötest mich. Und wer, denkst Du, wird sich um meine Kinder kümmern?" Das war noch die Mutter. „Wegen Dir geht es uns jetzt so." Das ist von der Tochter. „Wir trauen niemandem mehr."

Eine afrikanische Klagemauer. Angeklagt ist ein Unbekannter, angeklagt ist Gott oder ein Mörder oder die Krankheit - oder sind sie alle eins?

80 000 Waisenkinder in einem Land mit einer Million Einwohnern - das ist Swasiland. Swasiland ist wie Köln mit 80 000 Waisen. Jeder zehnte Haushalt hat keinen Erwachsenen mehr. Kann man sich das vorstellen? Nein. Selbst hier, in dieser Hütte mit der Klagemauer, kann man es sich nicht vorstellen.

Manchmal kommt ein Nachbar und hilft beim Pflügen. Frauen aus der Gemeinde kochen für die Waisen, es gibt Hilfsprojekte; davon werden wir später noch erzählen. Dennoch bleibt das Nicht-Vorstellbare: die existentielle Verlassenheit einer so großen Zahl von Kindern.

Ngome, so heißt die Gegend. Man fände sie allein nicht wieder. Obwohl Swasiland so klein ist. Das zweitkleinste Land Afrikas, ein Königreich, das man an einem Nachmittag durchqueren kann, auf der schönen Straße, die von Westen, von Südafrika, bis in den Osten, an die Grenze zu Mosambik führt. Aber dieses kleine Land ist wie nach innen gestülpt. Die meisten Menschen wohnen an unbeschilderten Sandpisten und Lehmwegen, verteilt zwischen Hügeln und Büschen, die man schon nicht mehr wieder erkennt, wenn man sich einmal umgedreht hat. Keine Dörfer, nur einzelne Homesteads, so hat die englische Kolonialsprache die winzigen Höfe der Swasis getauft; das Wort ist zu pompös für zwei, drei marode Hütten ohne Elektrizität neben einem Maisfeld.

Die Katastrophe hat also ein ländliches, stilles Gesicht. Swasiland hat die höchste HIV-Rate der Welt, 39 Prozent tragen die Krankheit in sich. Bei jungen Schwangeren sind es sogar über 56 Prozent, das ist der höchste Wert, der jemals in irgendeinem Land in irgendeiner Altersgruppe festgestellt wurde. Schon längst ist Aids keine Männer-Krankheit mehr, in Afrika leiden vor allem die Frauen und die Kinder. Südlich der Sahara sind insgesamt 11 Millionen Kinder durch die Epidemie Waisen geworden, eine riesige, barfüßige Armee der Schutzlosen.

Dieser Notstand schießt sich nicht in die Nachrichten; AIDS kann es nicht mit dem Irak aufnehmen, nichts explodiert hier, Swasiland implodiert, stirbt unter der Hand. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist auf 34 Jahre gefallen.

Beim Anflug präsentiert sich das Krisengebiet als gleichgültige Idylle. Von Johannesburg kommend streift die kleine Propellermaschine über eine Postkartenlandschaft, ein afrikanisches Berner Oberland mit Terrassenfeldern. Nichts Bedrohliches zu sehen, und was zu sehen ist, täuscht - so wie das Gras täuscht, das Swasiland so grün macht und dabei die Dürre verdeckt, die das Land seit Jahren plagt. Das schnell wachsende Gras ist wie eine Metapher für die trügerische Normalität, die den Besucher empfängt.

In Mbabane, der kleinen Hauptstadt, herrscht Einkaufstrubel. Schlussverkauf zum Ende der Schulferien! Und morgen eine exclusive Modenschau! Kentucky Fried Chicken lockt farbenfroh. Es lebe das gute Leben, live on the coke side of life! Abends ausgelassenes Gelächter im besten Restaurant der Stadt. Was hatte man erwartet? Abgezehrte Gestalten, Leichen am Straßenrand? Der Scrabble-Club lädt zum wöchentlichen Treff. Vielleicht gibt es ein Grundrecht auf Illusion, auf Scrabble am Abgrund.

Swasiland ist eine absolute Monarchie; sie erzeugt gelegentlich eine Zeitungsmeldung in Deutschland, wenn der König für sich und seine 13 Ehefrauen neue Luxuslimousinen bestellt. Lange hat der kleine Potentat die heraufziehende Katastrophe in seinem Land ignoriert; die Verantwortungslosigkeit an der Spitze paarte sich mit ängstlichem, tabubehaftetem Schweigen auf Seiten der Untertanen. 1999 begann das große Sterben, doch es vergingen noch einmal vier, fünf, sechs kostbare Jahre, bis endlich Aufklärung in großem Stil begann. „Eine Nation im Krieg gegen AIDS", so lautet nun der Slogan des Nationalen Aids-Rats, der im Auftrag der Regierung die Epidemie bekämpft.

Aber wo ist die Front in diesem Krieg? Wo sind die Kranken, die Toten? Und wo ist die Trauer?

Die Suche führt hinaus aus der Stadt. Wer stirbt, stirbt auf dem Land. Wenn sich die Krankheit nicht mehr verbergen lässt, wenn sie ihr letztes Stadium erreicht, dann gehen auch die Städter dorthin, wo sie einmal hergekommen sind. Kehren zurück auf ihre Homesteads zwischen den grünen Hügeln, wo das Gras schnell über die frischen Gräber wächst. Es ist leicht ein Grab zu übersehen; nur ein paar Ziegel markieren die Konturen, ein Ziegel steht aufrecht, dort ist der Kopf des Toten. Die Landschaft eignet sich die Gräber rasch an, als seien die Menschen ohnehin nur eine vorübergehende Erscheinung.

So sind es nicht Friedhöfe, deren Ausmaß den Swasis vor Augen führt, was mit ihnen passiert - es sind die Kinder, hungrige, verwahrloste, gefährdete Kinder. Die Nationalsprache Siswati hat kein Wort für „Waise". Die Swasis kannten keine Waisen, denn in den großen Familien waren Onkel und Tanten stets auch wie Väter und Mütter. Die Krankheit hat die alten Netze zerfetzt, hat Wesen geschaffen, die jetzt mit einem englischen Wort benannt werden: orphan.

Thembi Tsabedze rührt mit einem Stock durch den Maisbrei. Jeden Tag kommt sie her, in diese dämmrige kleine Lehmhütte, in der die Holzscheite des Feuers so heftig qualmen, dass einem gleich die Augen tränen. Auf dem Feuer steht ein schwarzer Kessel, zwei, drei Stunden muss der Brei kochen. Es sind 39 Portionen, 39 Waisenkinder aus der Umgebung essen hier jeden Tag. Thembi Tsabedze wohnt nahebei, sie ist die Hüterin dieser Kochstelle. Mit ein paar anderen Frauen hat sie die kleine Lehmhütte gebaut, um das Feuer vor Wind und Regen zu schützen.

Der schwarze Topf auf dem qualmenden Feuer ist ein Symbol notdürftiger Hoffnung. Durch ganz Swasiland zieht sich eine Spur dieser Töpfe, sie sind alle identisch, groß, schwarz und schwer, Unicef hat sie geliefert. Mehr als 400 Töpfe sollen es sein -  simpelste Essens-Stationen für 33 000 Waisen.            

Thembi Tsabedze kommt nun schon seit drei Jahren, kocht ehrenamtlich, jeden Tag das gleiche, diesen Brei; es nichts anderes da. Zu Hause hat sie sechs eigene Kinder, sie sind zwischen zwei und 19 Jahren, das ist die Spanne einer Swasi-Mutterschaft.

Thembi Tsabedze steht also um 4 Uhr 30 mit der Sonne auf, dann kocht sie erst für die eigene Familie, später müssen die älteren Kinder nach den jüngeren sehen. Ab 9 Uhr ist sie an der Lehmhütte, schleppt mit ein paar anderen Frauen erst einmal 25 Liter Wasser heran, die Wasserstelle ist zwei Kilometer entfernt. So geht der Tag weiter; Mutter Tsabedze macht nicht viele Worte darüber. Sie hat nie eine Schule besucht, und wenn man sie nach ihrem Alter fragt, dann sagt sie, als sei es ein Vorschlag: „Vielleicht 42?" In ihrem Gesicht liegt eine ruhige Symmetrie; sie sieht, was getan werden muss, und tut es. Nur die Leichtigkeit, mit der sie auch größere Kinder auf dem Arm hält, verrät ihre Kraft.

Niemand dankt diesen Frauen. Sie bekommen keinen Cent vom Staat und meistens nicht einmal Anerkennung von ihren Ehemännern; mancher holt sich sogar eine neue Frau: Weil ihn die Hüterin der Waisen vernachlässige. Und manchmal ist die Gemeinde neidisch, weil für die schwarzen Töpfe Säcke mit gespendetem Maismehl vom Welternährungsprogramm kommen. Dann flüstern böse Zungen, die Frauen äßen sich heimlich satt, nur darum kochten sie für die Waisen.

Neighbourhood-Care-Point, diesen glanzvollen Namen gab Unicef dem schwarzen Topf, der Feuerstelle und dem gespendeten Sack Maismehl - also der Idee, die Waisen dort zu versorgen, wo sie leben, in der Gemeinde, der Nachbarschaft. Die internationale Helfergemeinde liebt solche Potemkinschen Begriffe, und das Kürzel „NCP" hat auf verblüffende Weise den Weg in die Alltagssprache der Swasis gefunden. Nur ist es meistens nicht die Nachbarschaft, nicht die ganze Gemeinde, die sich verantwortlich fühlt, es sind ausschließlich Frauen.

Die Swasi-Männer fühlen sich in ihrer großen Mehrheit nicht zuständig für Kinder, weder für ihre eigenen noch für die Waisen in ihrer nächsten Umgebung. Ein Mann mag sieben, zehn, elf Kinder haben und empfindet sich doch als Junggeselle, als eine unabhängige Einheit. Und wenn er etwas Geld in der Hand hat, dann denkt er zuerst an sich und an das Bier, das er davon kaufen könnte. Zum traditionellen Kostüm der Männer gehört ein Rinderfell, das den Schritt verdeckt; darüber hört man Frauen sagen: „Die Männer sind so faul, sie sollten uns ihr Rinderfell geben." Das ist die Swasi-Version von: Die Männer haben keine Hosen an.                                                                              

Die Uhr rückt auf Mittag vor, wir fahren weiter auf der Spur der Töpfe. Zur nächsten Essens-Station sind es im Landrover vielleicht 20 Minuten; wie lange laufen daran kleine Füße? Die Kinder stehen schon erwartungsvoll Schlange mit Blechtellern in den Händen. Die Frauen haben hier für 60 Waisen gekocht, aus zwei dampfenden Kesseln werden Maispampe und gelbe Bohnen auf die Teller geklatscht. Die Kinder blicken mit ernsten Erwachsenen-Gesichtern auf ihre Portion, für die meisten ist sie das einzige Essen am Tag. Still suchen sie sich einen Platz auf dem Boden, essen schweigend, konzentriert. Plötzlich taugt eine Riege älterer Männer auf, es sind die Honoratioren der Gemeinde, sie wurden von Neugier auf den ausländischen Besuch angelockt - als die Arbeit getan ist.

Es wartet noch ein dritter schwarzer Topf an diesem Tag; man muss viele dieser Töpfe sehen, um zu verstehen, dass jeder eine andere Geschichte erzählt. Der schwarze Topf ist wie eine Bewährungsprobe, ein Test für die Menschen, in deren Mitte er steht: Entwickelt sich Leben, Hilfe, Zusammenhalt um ihn herum? Oder ist er nur stummer Zeuge von Verfall und Agonie?

Als habe niemand mehr die Kraft, ein paar Steine und Lehmbrocken in das hölzerne Gerüst eines Hauses zu packen: So baufällig ist diese dritte Essens-Station. Sie wird von Großmüttern betrieben, sie waschen gerade die Blechteller ab, drei alte Frauen, wie das letzte Aufgebot der Humanität. Die Erste hat einen gewaltigen Kropf am Hals und steht auf geschwollenen Füssen. Der Zweiten hängen die schweren Brüste tief im löchrigen blauen Kittel. Die Dritte ist Witwe, und zum Mann starb ihr eben noch ein Sohn. Schwarzumrändert ihre Augen, das schwarze Gesicht umrahmt von einem staubig-schwarzen Witwentuch - wie viele Töne schwarz es gibt. In diesem Gesicht ist die Frage beantwortet, wo die Trauer wohnt.

Wenn die ganz Alten für die ganz Jungen sorgen müssen, dann steht die Natur kopf - in Swasiland ist das Alltag. Die Großmütter sind in der Aids-Krise das Rückgrat, das große Herz des Landes.

Den Hof von Oma Mnisi markiert eine imposante Kaktee, eine riesige Euphorbia streckt ihre Arme in den heißen Himmel. Am Fuß des Baums liegt ein zerfleddertes Kinderbuch, seine Seiten sind rötlich gefärbt, im erdigen Rot dieser Gegend. Die Stelle, die der Wind gerade aufgeschlagen hat, erzählt von einer Großmutter, die aus dem Schönheitssalon kommt. Ach, welche Laune des Schicksals hat ein englisches Kinderbuch aus der Reihe „Babysitter´s Club" bloß auf diesen Hof geweht?

Oma Mnisi kann nicht lesen, sie hat ihren Sohn und ihre Töchter drüben hinter dem Maisfeld begraben, nun sorgt sie für sieben Enkel, sitzt auf der roten Erde dieses ärmlichen Hofes und beschwert sich nicht. Eine afrikanische Großmutter, eine Gogo, die klaglos alles schultert, im Vertrauen darauf, dass Gott schon weiß, warum er ihre Bürde so schwer gemacht hat. „Ich nehme alles an, wie es ist", sagt sie. „Ich bin nur traurig, wenn ich sehe, wie die Kinder hungrig schlafen gehen."

Wenn man Oma Mnisi auf dem Display der Digitalkamera das Foto einer anderen Oma zeigt, dann schmilzt ihr Gesicht in süßem Erkennen und sie sagt: „Oh, Gogo!", als sähe sie eine geliebte Schwester. Ihre Hand will das Bild streicheln, im letzten Augenblick zuckt sie zurück, aus Scheu vor diesem fremden Ding, der Kamera.

Manchmal ist der Abstand zwischen zwei Welten nicht in Kilometern zu messen. Es dauert nur eine kleine Weile, dann hat man dieses leidgeplagte Hinterland verlassen, stößt auf den schönen Highway - und sieht gerade noch, wie ein schwarzer BMW die königliche Residenz verlässt, mit Blaulicht eskortiert. Eine der 13 Gattinnen des Königs fährt zum Shoppen. Dieses Swasiland, das dekadente, erfüllt alle negativen Klischees von Afrika. Im anderen Swasiland kochen alte Frauen auf geschwollenen Füssen für die Waisen.

Dieses kleine Königreich zählt keineswegs zu den ärmsten Ländern Afrikas - obwohl zwei Drittel der Swasis tatsächlich sehr arm sind und von weniger als einem Dollar am Tag leben. Und die Besitzenden sind nicht nur eine winzige Clique, sondern etwa zehn Prozent der Bürger: die städtische Mittel- und Oberklasse sowie die Crème der verzweigten Königsfamilie. Müsste also nicht rigoros umverteilt werden, wenn die Nation so am Abgrund steht? Niemand scheint das zu fordern. Bei den Wohlhabenden hat sich in diesem inbrünstig christlichen Land noch nicht einmal eine Kultur der Mildtätigkeit entwickelt. Und obwohl alle, die lesen können, die entsetzlich hohe Infektionsrate kennen, schützt sie eine Art kollektiver Blindheit vor der Wahrnehmung der Realität.  Manche wissen nicht einmal, dass es vielen Waisenkindern am Allernotwendigsten mangelt - obwohl das jeden Tag in der Zeitung steht.

Es ist der zweite Tag des neuen Schuljahrs. Auf der Wiese vor der Grundschule von Sigombeni stehen Hunderte von Kindern herum, sie kleben zusammen in Gruppen und in Pulks, Ratlosigkeit in ihren Gesichtern. Stunden stehen sie hier schon, eine Kindermenge in verwaschenem Grau-Rosa, das sind die Farben der Schuluniform, ausgeblichen und abgetragen. Nur das Wappen der Schule ist noch gut zu erkennen, es zeigt einen Stift und eine Kerze und eine schöne Losung: „Erziehung ist das Licht".

Sie aber, sie dürfen nicht hinein ins Licht. Ihre Eltern haben die Schulgebühren nicht bezahlt, genauer gesagt: ihre Eltern sind tot oder siech. Der Staat hat für solche Kinder einen Fond eingerichtet, aus dem die Gebühren bezahlt werden sollten, aber die Zahl der Bedürftigen hat den Fond gesprengt: Neben den 80 000 Waisen gelten weitere 60 000 Kinder aufgrund der Aids-Krise als gefährdet und vernachlässigt. Außerdem, so klagen die Schulen, komme das Geld aus dem Fond viel zu spät bei ihnen an. In Sigombeni konnten deswegen die Schäden vom letzten Sturm nicht repariert worden: hier die Löcher im Dach, dort die Waisen vor der Tür - das ist Aids-Krise im Detail.

Regierung und Schulleiter liefern sich nun ein tägliches Showdown, mit Schlagzeilen in der Presse und Kinderpulks vor den Schulen. Der Erziehungsminister hat angeordnet, alle Waisen erst einmal aufzunehmen, aber die Schulfürsten stellen sich quer, sie pochen auf ihre Autonomie - und vor Ort wagt niemand, ihnen zu widersprechen. Die Pulks der Waisen, sie haben keine Stimme, keine Lobby. Die Frauen, die in den schwarzen Töpfen den Maisbrei rühren, sammeln Geld für die Schuluniformen - aber wie sollten diese Frauen dem gelehrten Herrn Schulrektor gegenüber treten, wo sie doch selbst nicht einmal ihren Namen schreiben können?

Aids frisst Bildung; dabei müsste es umgekehrt sein: Mit Bildung gegen die Seuche. Wer zur Schule geht, weiß etwas über sicheren Sex, Schulabbrecher infizieren sich schneller. So steht es in Studien über Swasiland. Mit gedrängt vollen Schulbänken könnte das kleine Königreich überleben. Aber in Swasiland ist es wichtiger, dass die Schulen gut aussehen. Weltstandard soll sein Schulsystem sein, darum hat die Regierung ausgerechnet auf dem Höhepunkt der HIV-Krise das Curriculum der Oberschulen geändert: Sämtliche alten Schulbücher sind ungültig, nichts kann von älteren Geschwistern übernommen werden, jeder Schüler braucht nagelneue, teure Bücher. Das Teuerste ist ein Lehrbuch für Business Studies, unerschwinglich für die meisten Waisen. Es sind nicht einmal Fotokopien gestattet. Welche Hybris, welche Selbsttäuschung.

Sibonakele, eine 14jährige Waise, erzählt, wie es war am ersten Schultag. Sie lief zu ihrer Schule, setzte sich in den Klassenraum, der Lehrer schickte sie hinaus und sagte: „Komm wieder, wenn Du die Bücher hast!" Sibonakele hat uns beim Erzählen den Rücken zugewandt, weil ein Mann dabei ist; so machen es die Swasi-Mädchen meistens. Ihre Stimme ist kaum hörbar. Als sie den Moment erinnert, wo sie aus der Klasse geschickt wird, presst sie beide Hände vor die Augen, so schämt sie sich.            

Vermutlich ist nichts von all dem einzigartig. Weil Swasiland so klein ist, so überschaubar und ethnisch homogen, ähnelt es einem sozialen Labor. Hier kann man lernen, wie der Zerfall traditioneller Werte durch Aids beschleunigt wird - und wie lange es dauert, bis die Menschen wiederum ihr Verhalten so ändern, dass die Nation tatsächlich Krieg führen kann gegen den Feind in ihrem Inneren.

Obwohl nahezu jeder Zweite die Krankheit in sich trägt, bleibt sie ein Stigma. Statistiken zufolge ist die Infektionsrate bei den wohlhabenden Städtern etwa ebenso hoch wie bei den armen Subsistenzbauern, doch nur wenige Swasis aus der Mittel- und Oberschicht bekennen sich dazu.

Thembi Nkambule sitzt wie das blühende Leben hinter ihrem Schreibtisch. Medikamente haben die Immunschwäche bei ihr zurückgedrängt, und um die frohe Botschaft zu verbreiten, wie  diese anti-retrovirale Therapie helfen kann, machte sie ihren Fall vor ein paar Jahren publik. Die frühere Lehrerin koordiniert heute die Selbsthilfegruppen der HIV-Positiven, und das sind immerhin 80 Initiativen. Die ersten Betroffenen gingen 1993 an die Öffentlichkeit, mehr als ein Jahrzehnt bevor endlich die offizielle Aufklärung begann. Aber bis heute, sagt Thembi Nkambule, wird das Bild von Aids in Swasiland verkörpert durch eine abgemagerte, arme Frau vom Land. „Kein führender Manager, kein Richter, niemand aus der Königsfamilie bekennt sich dazu, infiziert zu sein. Durch die Medikamente sehen heute viele ganz gesund aus, niemand sieht ihnen etwas an, genauso wenig wie mir. Der offene Umgang mit der Krankheit beschränkt sich auf die Armen und Ungebildeten."

Ihre Friseuse ziehe sich Handschuhe an, wenn sie ihr die Haare wäscht. „Das macht mir nichts aus", sagt Thembi, „obwohl meine Kopfhaut in Ordnung ist. Aber was ist mit den anderen Kundinnen? Ist ihre Kopfhaut ungefährlich, weil sie ihren HIV-Status verschweigen?"

Nicht weit vom Büro dieser Selbsthilfe-Organisation wird man auf der Straße von einer Frau angesprochen. Sie bittet um Geld, „meine Mutter liegt im Sterben, ich muss sofort ins Krankenhaus!" Man gibt ihr die geforderte Summe und sieht die Frau bald darauf herumschlendern, auf der Suche nach weiteren naiven Ausländern. Sie spricht keinen Swasi an. Auch die Masse der tatsächlich Notleidenden und Kranken begreift Hilfe aus dem Ausland als eine Selbstverständlichkeit - und begehrt nicht auf gegen die Gleichgültigkeit der eigenen Landsleute.

Der Nationale Aids-Rat wirbt um finanzielle Patenschaften für Waisenkinder; man kann ihre Fotos anklicken auf einer Website, schnell, sauber und einfach, 1000 Kinder sind da zum Auswählen,  bisher fanden sich 400 Paten - darunter nur wenige Swasis.  

Swasiland verlangt zu Recht Respekt für seine Traditionen; die Waisen sollen weder in Heimen gettoisiert noch massenweise für Auslandsadoptionen feilgeboten werden. Aber wann wird die Forderung nach Respekt vor der Kultur zur Erpressung? Sind die absolute Monarchie, die Männerwillkür, die Frauenverachtung schützenswertes Erbe?

Ersin Müller versucht, sich von diesen Fragen nicht beirren zu lassen. Sie steht zwischen fünf Koffern voller Kinderkleidung aus Deutschland, alles gesammelte Spenden, alles mitgeschleppt, am Flughafen Johannesburg in einen winzigen Mietwagen gestopft, den kleinsten und billigsten, den es gab. Ersin, das ist türkisch; sie kam mit 16 nach Deutschland, jetzt ist sie 50, eine drahtige, schmale Frau, die von Unruhe getrieben wird, solange soviel in der Welt im Argen liegt. „Ich muss aufstehen und etwas tun", sagt sie. „Ich muss immer helfen." Das sei eine Krankheit, fügt sie mit trockenem Humor hinzu, „unheilbar, wie Aids." 

Ihr Verein in Wiesbaden heißt „Hand in Hand", das wirkt ein wenig betulich, aber ist in finanzieller Hinsicht wörtlich zu nehmen: Zehn Euro Spende werden zehn Euro Hilfe vor Ort. „Mitglieder zahlen ihre Ausgaben selbst", steht in der Satzung. Also nimmt die Vorsitzende Urlaub, zahlt den Flug privat, hoppelt mit ihrem Mitstreiter und Lebensgefährten in diesem winzigen Wagen über die Lehmpisten, und wenn dann der schimmernde Landrover einer großen Hilfsorganisation vorbeirauscht, sagt sie kopfschüttelnd: „Muss es denn immer vom Feinsten sein? Was könnte man mit dem schönen Geld alles machen!"

Die Geschichte, wie Ersin Müller dazu kam, auf den grünen Hügeln von Swasiland stabile Dächer über die schwarzen Töpfe zu bauen, klingt ziemlich verrückt. Vor drei Jahren schrieb sie aus Wiesbaden die Regierungen der acht Länder mit den höchsten HIV-Raten an; sie wollte ein Hilfsprojekt beginnen. „Sierra Leone antwortete nach anderthalb Jahren." Zu Swasiland entstand der Kontakt schnell. Ersin Müller flog hin, sie dachte erst an ein Kinderdorf, dann sah sie die Menge der Waisen, sah die schwarzen Töpfe, sah Frauen kochen in Regen und brennender Sonne - und fasste ihren Entschluss. Daraus echte „Neigbourhood-Care-Points" machen, stabil und dauerhaft!  Ihr Verein hatte  45 000 Euro gesammelt, davon kaufte sie in Swasiland Baumaterial, es reichte für acht solide Essens-Stationen, nebenbei noch für eine Behelfs-Schule und ein paar Privathäuser. Freiwillige aus den Gemeinden bauen selbst, so entsteht ein Komitee, das sich auch weiterhin verantwortlich fühlt. Natürlich war das alles ungeheuer viel Arbeit, alle Urlaube, viele Feierabende gab Ersin Müller dafür her.

Ein dunkles Holzhaus auf einer Anhöhe, Kinderstimmen fliegen im Chor über die Wiese: „... seven, eight, nine, ten." Drinnen Dämmerlicht, Sonnenstreifen durch Ritzen gefiltert. „Noch einmal", ruft eine barfüssige Laien-Lehrerin und klopft gegen die Tafel. Ersin Müller setzt ihren Rucksack ab, hockt sich auf die Schwelle, klopft den Takt der Kinderstimmen mit; zu sehen, dass in diesem Haus wirklich Leben ist und dass die Kinder lächeln, das entschädigt für viele Wochen Plackerei. Das Holzhaus ist eine Kombination aus Essens-Station und Vorschule; die Waisen sollen später den Anschluss schaffen an die Schulen, die ihnen heute noch das Licht vorenthalten.

Wer einmal beginnt, sich mit diesen Kindern zu beschäftigen, kommt davon wohl nicht mehr los. „Die Mäuschen", sagt Ersin Müller, „sie können doch nichts dafür." Ihr Verein wird weiter bauen, die Urlaube der nächsten zehn Jahre sind schon verplant, über Lehmpisten holpernd.

Um das Holzhaus herum herrscht Trubel. Einige Frauen tragen Polo-Shirts in Unicef-blau, auf ihrem Rücken steht Lihlombe Lekukhalela, das bedeutet: „eine Schulter, um daran zu weinen". Es sind ehrenamtliche Kinderschützerinnen. Ihre Gemeinden haben sie ausgewählt als moralisch besonders zuverlässig, jede hat sechs, sieben, acht eigene Kinder, mindestens. Sie haben ein Training absolviert, sollen die Gefahr von Missbrauch frühzeitig erkennen. Das beginnt damit, den Besitz von Kindern zu verteidigen, wenn die Eltern sterben. In der Vergangenheit kamen oft Nachbarn und räumten den Kindern einfach die Hütte leer. Waisen-Jungen werden als kostenlose Arbeitskraft angesehen, Waisenmädchen als sexuelle Beute. Und wie überall auf der Welt ist bei Kindesmissbrauch der Täter meist ein vermeintlicher Freund des Opfers - macht sich an hungrige Waisen heran, schenkt ihnen Essen, zieht ihnen dann später das Höschen herunter.

Die Lihlombe Lekukhalela senken die Stimmen zum Flüstern, erzählen von einer Vergewaltigung in der Gemeinde: Das Waisenmädchen war 13, der Täter ihr großer Bruder. Die Großmutter offenbarte es den Kinderschützerinnen, und die holten die Polizei. Das waren gleich zwei Tabubrüche. Der Vergewaltiger konnte fliehen, doch die Gemeinde, sagen die Kinderschützerinnen, habe hinter ihnen gestanden, habe sie sogar zum Handeln gedrängt.

Eine Schulter, um daran zu weinen, das müsste eigentlich mehr sein als der bloße Schutz körperlicher Unversehrtheit: Emotionale Wärme, eine Vertrauensperson. Weil die Aids-Waisen so viele sind, werden sie oft nur als kleine Maisbrei-Esser betrachtet, nicht als kleine traumatisierte Menschen. Die Frauen, die für sie sorgen, ahnen wohl, dass das nicht reicht, auch wenn sie das Wort Trauma nicht kennen. Typisch dieser Fall: Eine Mutter hat die Kinder ihres verstorbenen Vetters aufgenommen; er starb vor den Augen seiner Kinder. Drei Jahre ist das nun her, drei Jahre, in denen der Tod mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde. „Ich habe Angst!" sagt die Frau. „Ich weiß nicht, was passiert, wenn sie sich erinnern."

Kinder trauern anders als Erwachsene. In unserer behüteten Welt gibt es Trauergruppen für Kinder, die einen Elternteil verloren haben. In Swasiland hat die brutale Hand der Epidemie eine halbe Generation in Trauergruppen geworfen. Sie sind stumm, sie teilen nichts mit, sie lassen uns nicht hinein sehen, und wir haben oft keine Ahnung, was sie empfinden.

Niemand weiß, was aus einem Land wird, in dem Zehntausende so heranwachsen, Trauer und Schmerz in ihrem Innersten versiegelt.

Die Toten: Lehrer hinterlassen unbesetzte Posten, Bauern unbestellte Felder, Söhne sterben vor den Vätern. Wenn der Sohn des Chiefs stirbt, bricht in der Gemeinde Verwirrung aus. Der Posten des traditionellen Führers ist erblich, es muss ein Mann sein, ein Mann aus dem königlichen Clan. Ist die Erbfolge gestört, brechen Machtkämpfe aus, sie ziehen sich hin, alles liegt brach.

In Mambatfweni war das die Stunde einer Frau. Um Blutvergießen zu vermeiden, kam ein weiblicher Chief, eine Chiefin ins Amt, nur vorübergehend, versteht sich, nur stellvertretend - nun hält das Provisorium schon zehn Jahre. Wie stellt man sich eine Chiefin vor, die zugleich Prinzessin ist? Ngoyi Mkhonta, 56, trägt ein Polyesterkleid, unter dem Arm eine abgewetzte Handtasche, um den Kopf ein Pünktchen-Tuch. „Ich bin das Auge des Königs", so stellt sie sich vor; das ist die traditionelle Umschreibung für einen Chief.

Ohne Umschweife, mit fast brutaler Deutlichkeit spricht sie über Aids, deutet auf einen Haufen neuer Ziegel, „wir brauchen dringend ein Hospiz für die Sterbenden", und lädt zu einer Rundfahrt, um verlassene Höfe zu besichtigen.    

Ein Pick-up voller Männer begleitet uns, eine Müßiggänger-Eskorte; sie beweist, dass diese Chiefin wirklich ein Chief ist. Im Wagen sagt sie abrupt: „Ich bin nicht besonders gebildet, aber ich bin zivilisiert."       

Auf einer Anhöhe unter einem schweren, düsteren Himmel  drei einsame Steinhäuser, kein Zeichen von Leben. Ein Haus steht offen, drinnen ein kaputter Schrank, an seiner Tür hängt eine Kindermütze, in schmutzigem Rosa. Wie lange hängt sie schon da? Die Chiefin zeigt ins Gras, auf vage Konturen überwachsener Gräber. 1997, damals nahm sie das erste Waisenkind in ihre Familie, zwei weitere folgten.

„Ich ermutige alle in meiner Gemeinde, sich testen zu lassen", sagt die Chiefin. „Ich sage ihnen: Wer HIV-positiv ist, hat nichts Schlechtes getan, hat gegen kein Gesetz verstoßen. Alle hier sind sexuell aktiv, Sex ist Teil des Lebens." 150 Leute seien zu ihr gekommen, um ihr persönlich zu sagen, dass sie infiziert seien.

Ob diese Chiefin besser regiert als ein Mann, ist schwer zu beurteilen. Aber sie steht mit beiden Beinen in der Wirklichkeit, sie sieht die Katastrophe, von der sich alle Augen des Königs lieber abwenden. Und ihre Gemeinde ist aktiv: 13 Essenstationen für Waisen gibt es hier; auf einem Gemeinschaftsfeld bauen Frauen Gemüse für die schwarzen Töpfe an; in einem Schulgarten lernen Kinder über Landwirtschaft, was sie früher von ihren Eltern gelernt hätten. Und ein großes Stück Land wird nur von Waisen beackert: 30 Beete für 60 Kinder, sie kommen jeden Tag, die Kleinsten wissen noch nicht ganz, was sie tun sollen, aber sie stehen mit Besitzerstolz breitbeinig auf ihrem Fleckchen Erde. -                        

Die Männer: Sie halten HIV für ein Frauen-Thema, so absurd das klingen mag. „Wenn wir eine Aufklärungsveranstaltung machen, dann können wir froh sein, wenn unter 50 Anwesenden vier Männer sind", sagt ein Mann, ein Swasi-Mitarbeiter beim Roten Kreuz. „Um Männer anzulocken, musst du Bier hinstellen und Fleisch. Es ist furchtbar schwer, das Verhalten von Männern zu verändern."

Dies ist der Kern der Krise: Die Frauen wissen viel mehr über Aids, aber dieses Wissen hat keine Macht. Swasilands neue Verfassung gibt den Geschlechtern gleiche Rechte, doch davon haben die meisten Frauen noch nichts gehört, und wenn sie davon wissen, hilft es ihnen nicht, dem Mann ein Kondom aufzuzwingen. In den rückständigsten Familien darf eine Frau in Abwesenheit des Mannes nicht einmal ein Huhn schlachten: Denn für ihn sind die Innereien reserviert; wenn er sie nicht isst, verliert er in den Augen anderer Männer an Respekt.

Der Kern der Krise lässt sich noch genauer fassen: Patriarchat, König, Kirche - ein fataler, todbringender Dreierbund. Der polygame König lebt ein Ideal von Männlichkeit vor: viele Frauen! Jungfrauen! Doch die traditionelle Mehrfach-Ehe, mit Treue zu den Gattinnen, kann sich kaum ein Swasi mehr leisten: Eine einzige Ehefrau kostet bereits 15 Rinder Brautpreis. Dem königlichen Vorbild an Virilität zu folgen, bedeutet also Fremdgehen, Gelegenheitssex, notfalls Vergewaltigen. Die Kirchen haben sich wiederum mit der Polygamie arrangiert - obwohl in den Gottesdiensten die Frauen genauso in der Überzahl sind wie in den HIV-Veranstaltungen.

Doch allmählich keimt Kritik. Im Staats-Fernsehen ist die Sitten-Welt des Königs noch ein Tabu, jedoch nicht in den Zeitungen, bei den Intellektuellen und Engagierten. Zu ihnen zählt Modison Magagula, ein Mann, der die Männer ändern will. Er ist Direktor einer Theatergruppe, sie macht Aufklärungs-Theater, „Edutainment" steht auf dem alten postgelben Nissan-Bus, mit dem der ehemalige Lehrer an diesem Sonnabend zu einer Aufführung rattert. Hinten drin ein Teil seiner Truppe, men for change steht auf dem T-Shirt eines Schauspielers. Vorne fällt die Klappe des Handschuhfachs bei jeder Bodenwelle aus ihrer Halterung, die Gänge krachen, und in das Getöse hinein ruft der Direktor: „Wir sind die Abgesandten der Frauen. Wir überbringen den Männern ihre Kritik."

Ankunft auf dem Hof eines Chiefs. Über Radio wurden die Männer und die Jungen der Gemeinde zum Theater eingeladen. Dessen wichtigste Requisiten sind, oha!, zwei schwarze Töpfe. Bloß kocht hier kein Brei, hier kochen Männer für Männer, vier Rindsköpfe und acht Paar Hufe liegen in brodelnder Brühe. Dies ist ein altes Ritual, früher wurde es nach dem Schlachten veranstaltet, bot den Männern Gelegenheit, stundenlang um die Töpfe herum zu sitzen und zu palavern. Die Edutainment-Truppe hat das Ritual umfunktioniert, zum Palaver zeigen die Schauspieler in einem Sketch, wie riskant der häufige Wechsel von Sexualpartnern ist. So wird HIV ein ernsthaftes Männerthema, ganz exklusiv, nur für sie, zu den Schwaden von Rindsköpfen und Hufen...                        

 

Schnurgerade führt die Straße durch das Tiefland nach Osten. Am Horizont liegt ein Hochplateau wie ein brauner Riegel im Dunst: Da ist die Grenze zu Mosambik. Der Osten von Swasiland ist seine ärmste Region; seit Jahren hat es hier zu wenig geregnet, sogar das Feuerholz ist knapp und die nächste Wasserstelle im Extremfall zwei Stunden Fußmarsch entfernt.

Wo Swasiland fast zu Ende ist, liegt das „Good Sheperd Hospital", ein katholisches Krankenhaus, chronisch überfüllt, chronisch knapp an medizinischem Personal. Es ist Abfahrtszeit für den ambulanten Dienst, Ron klemmt sich hinter das Lenkrad eines weißen Landrovers. Ron ist Krankenpfleger, Mitte 50, ein amerikanischer Freiwilliger.  Der Tag ist heiß, brutal heiß und feucht, Ron läuft der Schweiß in Bächen von der Stirn. Er ist erschöpft, ausgebrannt vom täglichen Anrennen gegen die Krise, verbirgt das hinter Jovialität.  Neben ihm thront Schwester Anna, eine alte Swasi, klein, kühl und königlich sitzt sie auf dem Beifahrersitz. Ihre weiße Bluse leuchtet stoisch, ihre flauschige rote Baskenmütze scheint für kühlere Zeiten gemacht. So kurven die Beiden über die Graspisten, suchen die abgelegenen Homesteads ihrer Patienten und streiten dabei wie ein altes Ehepaar. „Hier links? - Nein dort. Halt, ich habe doch links gesagt. - Hast Du nicht gesagt." Streiten lenkt ab. Auf dem Rücksitz liest ein lethargischer Jungpfleger in der Bibel.

Jeden Tag fahren sie so, versorgen Patienten, die zu schwach sind für den Weg zum Krankenhaus. Jeden Tag eine andere Tour, jeden Patienten sehen sie nur einmal im Monat. Für viele, die einsam dahinsiechen, sind die zehn Minuten Besuch das Ereignis des Monats. Wenn der weiße Landrover vor ihrer Hütte hält, dann haben sie für zehn kostbare Minuten die Zuwendung der Welt.

Theresa, eine ältere Patientin, richtet sich auf ihrer Matte auf, gläubig starrt sie Ron an, sie hält ihn für einen Arzt, weil er weiß ist und ein Mann und Ausländer. Ron belässt sie in dem Glauben, er misst ihren Blutdruck, viel hat er nicht zu bieten, holt aus seinen grauen Erste-Hilfe-Kästen alle möglichen Pülverchen; vielleicht helfen sie der Seele.

Nur eine Enkelin kümmert sich um Theresa, nach der Schule. Eine zweite Enkelin, geistig behindert, sitzt schielend auf dem Hof, als einzige Gefährtin langer Tage. Das Seltsamste aber ist ein solides Steinhaus, unbenutzt und abgeschlossen steht es neben Theresas ramponierter Hütte. Das Steinhaus gehörte ihrem Mann, er baute es für seine zweite Frau, dann ging er mit ihr weg. Theresa, krank und allein zurückgelassen, wagt nicht, die Tür des Hauses aufzubrechen. Zu groß ist das Tabu.

Es gibt solche Mahnmale polygamer Absurdität in allerlei Varianten. Viele AIDS-kranke Frauen wurden von ihren Männern verlassen, entweder schon vor den ersten Anzeichen der Krankheit oder spätestens danach. Manchmal haben Waisenkinder kein Dach über dem Kopf, obwohl ein Haus oder eine Hütte da ist. Und dann baut vielleicht eine Hilfsorganisation ein neues Haus und stellt es neben das unbenutzte Tabu-Haus. Als der weiße Landrover vom Hof rumpelt, hat sich Theresa an einem Stock hochgezogen, sie lächelt und winkt dem Wagen hinterher.

Jeden Mittwoch ist Kindertag in der Ambulanz des Good-Sheperd-Krankenhauses; Aidskinder-Tag. Dann stehen mindestens hundert Kinder da, sie bekommen die antiretrovirale Therapie, müssen alle zwei Monate zur Kontrolle. 17 000 Kinder in Swasiland sind HIV-positiv.

Die Kinderstation ist ein freundlicher großer Raum. An der Decke drehen sich Ventilatoren, die zartgelben Vorhänge sind mit rundlichen Kinderbuch-Bienen bedruckt und von den Wänden lächeln bunte Löwen. Aber die Heiterkeit kämpft zwischen den fünfzig weißen Metallbetten auf verlorenem Posten. Wenn Kinder bei ihrer Geburt das Virus von der Mutter übernehmen, dann wartet die Krankheit nicht. Sie schenkt ihnen nicht wie den Erwachsenen sechs, acht ahnungslose schöne Jahre. Schon die Allerjüngsten hier zeigen Symptome, sind zu klein, zu dünn, haben zu wenig Haar, bekommen Lungenentzündung.

Auf dem Boden sitzt mit nacktem Po der zweijährige Nkosi, eisern hält er den Henkel eines grünen Plastikbechers in der Faust. Der Becher steht schief, immer schiefer, bis sich die Milch auf den Boden ergießt. Seine Mutter hat Nkosi verlassen. Neben ihm in einem Rollwägelchen Sipho, die Mutter gab ihn im Krankenhaus ab, dann starb sie, und nun taucht niemand mehr auf. Ein Fall nach dem anderen; Kinder, die im Krankenhaus bleiben, weil draußen niemand mehr da ist - oder weil sie draußen niemand mehr will. Wenn Kinder ihrer Krankheit wegen von den letzten Angehörigen verlassen werden - das ist, als stünde man am Ende menschlicher Zivilisation. Aber wie leicht ist es, ein Urteil zu fällen, wenn man selbst nicht zwei Stunden zu einer Wasserstelle gehen muss.

Die elfjährige Tevangeli hat fein geschnittene Züge und schöne Augen. Der Rest ist Haut und Knochen, sie wiegt nur 18 Kilo. Ein Riss im hellblauen Krankenhaushemdchen gibt den Blick frei auf hervorstehende Rippen. Wenn Tevangeli auf ihren stockdünnen Beinen durch den Raum geht, schimmern durch das Hemd die blanken Bögen ihrer Hüftknochen. Tevangeli, das ist ein christlicher Name, er erinnert an die Verkündigung, die frohe Botschaft.

Zuerst starben ihre Eltern. Dann wurde sie verlassen von der Tante, die für sie sorgen sollte. Irgendwo ist noch eine Großmutter, zu alt, selbst krank. Sonst niemand. Niemand ist gekommen, Tevangeli zu besuchen. Niemand in fünf Monaten. Sie erzählt das ohne sichtbare Bewegung, ohne Träne, ohne Klage. Ihr Blick ist leer. Weiter kann die Suche nach der Trauer nicht gehen.