Besuch beim Großscheich

Erkundungen in der ältesten Universität der Welt: Die Al-Azhar in Kairo*

Diese knisternde Gelehrsamkeit, wie leise raschelndes Papier. Scheich Bayoumi steht in seiner Bibliothek, ein zierlicher Mann vor dem dunklen Leder der Bücher. Ihre Rücken gruppieren sich zu schmückenden Kalligraphien, hier lungert kein Buch alleine herum, hier gehört alles zusammen in einschüchternder Formation. Koranexegese. Die Kommentare der vier islamischen Rechtsschulen. Die Aussprüche des Propheten in 23 Bänden.

Bayoumi konnte den Koran auswendig, als er neun Jahre alt war; jetzt ist er 64. „Wollen Sie mich testen?" fragt er herausfordernd. „Ich bin bereit." Der Professor der Theologie zählt zu den ranghöchsten Gelehrten der Al-Azhar-Universität. Sein Titel Scheich bedeutet im Kosmos islamischer Bildung Alter und Autorität; einem Scheich küssen Studenten die Hand. In der Welt der Azhariten zählt Respekt viel. Den ganzen Koran auswendig zu können, das ist nur die erste Voraussetzung, dieser Welt angehören zu dürfen.

Wir sind bei Bayoumi zu Hause, im Kairoer Norden. Der Salon ähnelt in seiner dekorativen Strenge den Buchrücken. Acht vergoldete Louis-XV-Stühle, zwei entsprechende Sofas; in der Mitte ein schwarzer Marmortisch mit Spitzendecke, darauf ein Koran, aufgebahrt in einer geöffneten Perlmutt-Schatulle. Es bringt Segen, den Koran zu betrachten, sagt Bayoumi. „Im Westen versteht man das nicht. Denn Sie blicken auf Religion von einem materialistischen Standpunkt. Der Islam aber formt die Menschen so, dass sie einen Ausgleich finden zwischen Materialismus und Spiritualität."

Später am Abend wird der Koran abgeräumt, wir essen schwere Schokoladentorte und allmählich legt sich die Befangenheit.

Erkundungen in einem unvertrauten religiösen Milieu. Al-Azhar, „die Blühende", ist die älteste Universität der Welt, 972 wurde sie in einer Kairoer Moschee gegründet. Zur Würde des Alters gesellt sich heute eine geradezu erschlagende Größe: 375 000 Studenten und 16 000 Lehrkräfte, verteilt auf 18 Standorte in Ägypten. Junge Muslime, Männer wie Frauen, aus vielen Ländern zieht es an die berühmte Lehranstalt; sie ist für die Sunniten, also für die Mehrheit der Muslime, seit Jahrhunderten die wichtigste Autorität.

Zwei westliche Journalisten in diesem Hort islamischer Tradition, das ist ein Experiment, für beide Seiten. Vorsichtig öffnen die Scheichs ihre Türen; uns ist es nicht weit genug, während die Gastgeber schon Durchzug fürchten. Die angespannte Atmosphäre zwischen der islamischen und der westlichen Welt drängt sich in jede Begegnung -  wir möchten schlicht Beobachter sein, doch für Professoren und Studenten sind wir Abgesandte des Westens, werden als solche geehrt oder kritisiert, belehrt, beschenkt, gescholten, und mehr als einmal fällt der Satz: „Sie wissen nichts über uns." 

Die Erkundungen müssen beginnen, wo alles begann, vor mehr als tausend Jahren. Die Al-Azhar-Moschee in Kairos Altstadt: Abendlicht taucht den Innenhof in Heimeligkeit, Kinder schlittern in Socken über die mattweißen Marmorfliesen. Am Rand sitzen Erwachsene essend, lesend. Jemand schläft, an eine Teppichrolle geschmiegt. Ein junger Mann umrundet den Hof; den Blick im Buch gibt er sich mit verhaltenen Schritten den Takt zum Rezitieren. Konturiert von einem Scheinwerfer das Wahrzeichen der Azhar: ein Doppelminarett - zwei Türme wachsen aus einem, so sind Wissen und Glauben verflochten.

Lehrstuhl, das Wort stammt von hier: Der Scheich saß auf einem niedrigen Stuhl, mit dem Rücken an eine Säule gelehnt, die seinen Namen trug. Ringsum im Halbkreis die Studenten. Altertümliche Intimität mündlicher Lehre - für einen Moment ist sie zu sehen, durch eine holzgedrechselte Trennwand: Ein Scheich mit der großen schwarzen Brille des Blinden  unterrichtet Frauen. Als die letzte von ihnen geht, verabschiedet sie sich laut,  damit der Blinde nicht ins Leere lehrt.

Am nächsten Morgen, 20 Minuten Taxifahrt entfernt ein ganz anderes Gesicht der Azhar: die moderne Massenuniversität. Vor den wuchtigen Stelen des Haupttors Polizisten und Soldaten mit Walkie-Talkies und automatischen Gewehren. Ohne Genehmigung darf niemand einen ägyptischen Campus betreten.

„Bismillah", im Namen Gottes, des Barmherzigen, murmelt der fromme Herr Alaa, als er zu uns ins Auto steigt. Er macht sich mit der Segensformel Mut; die Universität hat ihn abgestellt, unser Schatten zu sein auf allen Wegen. Herr Alaa trägt einen Bart wie der Prophet, dazu ein Bäuchlein und eine schwarze Aktentasche, in der seine Mitschriften unserer Interviews verschwinden. Herr Alaa sagt, wann die Reporterin ihr Kopftuch nach vorn ziehen soll und dass sich Muslime vor dem Essen die Hände waschen. Er ist sehr bemüht, seine Aufgabe gut zu erfüllen.

Rhythmisches Brüllen hinter Bäumen, „Kraft!", „Wille!", Trabgeräusche nähern sich, ein paar Hundertschaften joggender Studenten biegen um die Ecke, ihre Trikots sind rot, auf den meisten steht: Vodafone. Sporterziehung ist eines der vielen säkularen Fächer an dieser Universität. Ob sich jemand auf Zahnprothesen oder auf Honigproduktion spezialisiert - religiöse Studien nebenbei sind obligatorisch. Die Läufer ziehen am Rektoratsgebäude vorbei, „Kraft!", „Wille!", verschwinden um die nächste Ecke. In der Morgenluft bleibt ein leichter Männergeruch zurück.

Der Frauencampus ist drüben, hinter einer Mauer.

Geschlechtertrennung gilt an der Azhar als Mutter aller Tugenden. Doch haben vor allem die Mädchen das explosive Wachstum der Universität bewirkt: 150 000 sind es schon, bald werden sie die Hälfte der Studentenschaft stellen. Immer mehr junge Ägypterinnen wollen Bildung, die ein wenig Unabhängigkeit verspricht; und immer mehr muslimische Eltern wollen eine religiöse Erziehung ihrer Töchter.

Der Mann, der den Spagat zwischen den Bedürfnissen der Moderne und der Bewahrung der Tradition schaffen soll, heißt Ahmed Al-Tayyeb. Er empfängt in einem riesigen dunkelgetäfelten Zimmer, seit einem Jahr ist er Rektor - und nun schon eine Herzoperation! Zu groß der Stress, zu klein der Etat. Ständig diese Nackenschmerzen. In seinen Sorgen und seinem Habitus ähnelt dieser Philosophie-Professor durchaus dem Manager einer westlichen Universität. Er hat an der Sorbonne studiert; auf die Frage, welchen westlichen Philosophen er schätze, antwortet Al-Tayyeb: Sartre.

Der Rektor ist bemüht, jedwede Bedenken zu zerstreuen, die Azhar nähre einen extremistischen Islam. „Ein Azharit", sagt er, „glaubt nicht an den Kampf der Kulturen und will nicht die Vernichtung des Anderen." Die drei Buchreligionen - Islam, Judentum, Christentum - „ergänzen einander, alle Propheten haben dazu beigetragen". Zwischendurch ein Telefonanruf: Eine Einladung in die USA, zum interreligiösen Dialog. Aber werden Muslime dort nicht bei der Einreise demütigend kontrolliert? „Wenn ich da meine Schuhe ausziehen muss, reise ich sofort zurück."

Während des Gesprächs werden wir für eine religiöse Wochenzeitung fotografiert; „Dialog" steht später über dem Bericht. Der Rektor überreicht uns Azhar-Ehrenplaketten in Samtschatulle, mit der Aufschrift: „Gott hat euch gelehrt, was ihr vorher nicht gewusst habt." -

Bei den Theologiestudenten hängt ein Transparent aus dem Fenster: Boykottiert Pepsi, Ariel und amerikanische Kartoffelchips! Protest gegen die US-Politik im Irak. „Sie töten unsere Kinder!" Ein paar Meter entfernt stehen hölzerne Klapptische mit  bunten Heftchen, über die Liebe, den Satan und das Kopftuch. Ein Aufkleber mahnt „Schalte dein Handy aus in der Moschee!", ein anderer wirbt für den Schleier, „warum ich ihn liebe". Auf einem Poster tragen palästinensische Hamas-Kämpfer Gewehre und und einen Märtyrersarg.

Die „Dawa"-Fakultät ist das religiöse Herzstück der Universität. „Dawa" heißt „Einladung zum Islam", wir sollen es nicht mit Missionierung übersetzen, wird uns eingeschärft. Hier lernen junge Männer zu predigen und den Islam zu erklären, Muslimen wie Nicht-Muslimen. Die Minarette der Dawa-Moschee überragen alle anderen Gebäude auf dem Campus -  sie kommunizieren stumm      mit einem hohen Monument auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Universität: Dort liegt Ägyptens Präsident Sadat begraben, erschossen von einem Extremisten vor 23 Jahren an eben dieser Stelle.

Die Vorlesung „Islamische Kulturgeschichte" ist gut besucht, einige sitzen auf dem Boden, bilden einen Halbkreis um ihren Professor.  „Der Westen hat von unserer Kultur von Anfang an profitiert", ruft der Weißbärtige ins Mikrophon, „Parlamente und Wahlen sind keine westlichen Erfindungen, sie sind Teil unserer Kultur. Warum wenden wir sie nicht an?" Beifälliges Gelächter unter den Studenten. Schwere Metallampen hängen von der Bogendecke, die Wände sind mit Ornamenten gekachelt. Jemand führt vor, wie sich die Hörsaalstühle zusammenklappen und in den Boden versenken lassen; so wird aus einem Lernplatz ein Gebetsplatz. Die einstige Symbiose von Moschee und Universität wird in diesem orientalischen Neubau wieder lebendig.

Pause, großes Gedränge im marmorgefliesten Innenhof. Die Studenten bestürmen uns mit Fragen, Aufträgen, Kritik. Was wollt ihr hier, sucht ihr Terroristen? Warum ist der Westen gegen den Islam? Baut Vorurteile ab! Eine kleine Internationale in diesem Gewühle; ein stämmiger Bosnier mit blondem Vollbart, ein deklamierender Inder, ein frierender Kameruner, sein abgetragenes Popelinmäntelchen gegen Kairos Winterkühle  hoch zugeknöpft („Die Azhar ist die Kaaba der Wissenschaft"), ein souverän wirkender Palästinenser. „Mein Islam ist friedfertig, barmherzig", sagt er. „Frieden mit Israel ist möglich. Aber zuerst müssen sie uns wie Menschen behandeln."

Die Kritik am Westen und an Israel eint diese jungen Muslime, der politische Protest stärkt ihr Gemeinschaftsgefühl. Fast täglich demonstrieren sie auf dem Uni-Gelände gegen die Politik in Falludscha oder Gaza. Manchmal kommen dazu sogar die Mädchen auf den Jungencampus, das wird toleriert.

Eine multinationale Diskussionsrunde an einer anderen religiösen Fakultät. Ein heimwehkranker Malaie, der Unterrichtssprache Arabisch noch kaum mächtig. Ein indonesischer Doktorand, kerzengerade, eifrig, rechthaberisch. Und mitten drin, wie der Inbegriff der Entspanntheit der Nigerianer Sadiq Omar Ali, 27. Bei diesem freundlichen Bauernsohn begreift man sofort, warum die Azhariten in vielen Ländern Afrikas und Asiens hohen Respekt genießen. Er hat sich sieben Jahre an einer Azhar-Schule im Heimatland vorbereitet, das Studium in Kairo ist nun eine Ehre, nur durch ein Stipendium überhaupt möglich; bei seiner Rückkehr kann er auf „ein hohes Amt" hoffen, zumindest Lehrer werden. Islam, sagt er,  ignoriere Ethnie und Hautfarbe, sei eine Botschaft des Friedens, „eine Religion des Maßes". Ob er vermitteln kann im Kampf zwischen Christen und Muslimen seiner Heimat? Er hofft es.

Islamische Jugend wie in einer Nussschale. So unterschiedlich die jungen Azhariten sein mögen, so sehr sind alle überzeugt, den „richtigen" Islam zu vertreten. Das ist die Corporate Identity dieses Orts, sie prägt alle Gespräche, sie gibt den Azhariten eine Aura der Wahrheitsgewißheit. 

Aber was sind die Kriterien für „richtig"? Die Toleranz gegenüber anderen Religionen, die Friedfertigkeit, die Rolle der Frau? Westlern gegenüber nennen führende Azhariten ihren Islam „moderat", ein verbales Zugeständnis an westlich-säkulare Sprachgewohnheiten und ein politisches Dementi: Wir sind nicht radikal, wir sind gegen Extremismus und Terrorismus. Nach westlichen Begriffen sind die Azhariten indes eher konservativ: Das Glaubensverständnis des Islam zu reformieren, ist ihre Sache nicht; im Zweifelsfall stellt sich die Azhar scharf gegen Reformforderungen, zumal wenn sie von säkularen Intellektuellen erhoben werden.

Der Dekan der Dawa-Fakultät definiert Rechtgläubigkeit so: „Man kann jede Meinung akzeptieren, außer sie verstößt gegen den Koran und die Aussprüche Mohammeds". Was dies bedeutet, darüber sind sich die Azhar-Gelehrten allerdings keineswegs immer einig. -

Die Gefährten des Propheten haben Coitus Interruptus praktiziert, das ist 1400 Jahre später durchaus von Bedeutung. Weil die Sitte in den Hadithen erwähnt ist, den überlieferten Gebräuchen und Aussagen Mohammeds, ist Verhütung aus islamischer Sicht legitim. Diese Auffassung an der Azhar durchzusetzen, war indes ein langer Kampf,  bis in die späten 90er Jahre gab es „jede Menge Widerstand" , erinnert sich der Gynäkologe Gamal Serour. Er leitet das „Islamische Zentrum für Bevölkerungsstudien"; in Kooperation mit den Vereinten Nationen propagiert dieses Azhar-Institut Familienplanung in der muslimischen Welt.

Lange hörte Serour von seinen Azhar-Kollegen,  er mache sich zum Handlanger des Westens, der den Islam durch Geburtenkontrolle schwächen wolle. Er entgegnete: „Vergesst den Westen! Haben wir ein Problem mit Bevölkerungswachstum oder nicht? Anscheinend haben wir eins, und dann sollten wir es mit den Mitteln des islamischen Rechts lösen."

Mittlerweile vertreibt die Azhar von Somalia bis Kasachstan ihre Argumentationshilfe zur Geburtenkontrolle, Serour hat Seminare in einem Dutzend Länder veranstaltet. Die örtlichen muslimischen Führer glaubten oft einer falschen Koran-Interpretation, sagt er,  zumal wenn sie kein Arabisch können. „Es bedarf viel mehr Aufklärung, was islamische Positionen sind." An einem lässt dieser eloquente, druckreif englisch sprechende Azharit keinen Zweifel: Verhütungsmittel für Singles sind unislamisch, „sie würden außereheliche Beziehungen ermutigen".-

Bei den Frauen.

Die Heimleiterin klatscht in die Hände und ruft mit heller Stimme durchs Treppenhaus: „Achtung! Männer da!" Mädchen ohne Kopftuch huschen in ihre Zimmer, Vollverschleierte klappen hastig ihre Gesichtstücher herunter. 5000 Studentinnen wohnen in den Kairoer Mädchenheimen der Azhar, Bildungshungrige vom Land. Am Tor hatte eine Gruppe Germanistinnen stundenlang auf uns gewartet, begrüßte  uns unter großem Gekicher mit Rosen, einzeln in Plastik gewickelt.

Die Sitten sind streng. Kein Ausgang nach Einbruch der Dunkelheit, und nirgends ein Fernseher. Fernsehen macht dumm!, ruft eine Studentin, Fernsehen lenkt ab!, ruft eine andere.

 An den Wänden der Flure selbstgemalte Plakate und Kalligraphien, ausschließlich religiös. Aufgelistet „die Eigenschaften eines guten Muslim", die Mädchen drängen sich zu übersetzen: gebildet! hilfsbereit! stark! Ein Poster illustriert die Abfolge der Verneigungen beim Gebet; wenn man es einen Augenblick lang betrachtet, wollen es die Mädchen von der Wand reißen und der Reporterin schenken. Andrang zur Gruppendiskussion, die Stühle reichen nicht. Alle reden sich in Rage über das Kopftuchverbot für Lehrerinnen in Deutschland.

„Wir denken mit unserem Hirn, nicht mit dem Stoff!" Die 22jährige Omnia ist die Keckste - und bis auf den Augenschlitz unter lindgrünem Tuch verborgen. Die radikale Verschleierung wird an der Azhar nicht ermutigt, von manchen Professorinnen sogar „fanatisch" genannt - und auf dem Campus trotzdem toleriert. In Omnias Fall waren auch die Eltern dagegen; sie beharrte, vielleicht eine Art keusche Rebellion. Ihr Name bedeutet auf deutsch Wunsch, ihre Emailadresse heißt „wunsch 2010". Was also, Omnia, ist dein größter Wunsch für das Jahr 2010? Ihre Antwort kommt ohne Zögern unter dem Tuch hervor: „Die ganze Welt soll das richtige Islambild haben. Und richtig heißt: Alle wissen, dass der Islam die Frau hoch schätzt." Vokabelsuche, die Mädchen stecken die Köpfe zusammen wie Rugby-Spieler: Was ist die Frau im Islam: Schmuckschatulle? Kulturbeutel? Schatzkiste? Ach nein, ein Edelstein! Winken zum Abschied.

Bis ins 16. Jahrhundert stand die Moschee-Universität Frauen offen, danach monopolisierten Männer die Azhar - ein Puzzleteil im Gesamtbild eines versteinernden Islam. Seit 1962 sind Studentinnen wieder zugelassen; sie können heute alles studieren, vom Ingenieurswesen bis zur islamischen Jurisprudenz.

Parallele Welten: Die Trennung der Geschlechter produziert eine je eigene Sinnlichkeit. Männliche Dozenten nehmen ihre Studenten in den Arm, fahren ihnen durchs Haar. Bei den Mädchen vibrieren die Flure wie von Vogelgezwitscher; einige ältere Paradiesvögel kreuzen. Die Psychologin Samya Al-Gendy, eine femme fatale der Al-Azhar: Minimalistisch verschleiert durch ein perlenbesetztes Haarband, gekrönt von einem falscher Dutt, die Brille extrem schnittig, der Hosenanzug mit Federbesatz, die Bluse knallrot. Selbstverständlich, sagt sie, fühle sie sich der Frauenbewegung zugehörig.

Lautes Stimmengewirr im Zimmer von Hannah Abu Shaba, der Chefin der Philosophischen Fakultät. Man muss „Duktuur!", Doktor, brüllen, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die Studentinnen haben heute wieder demonstriert, wg. Falludscha. „Die Iraker werden mieser behandelt als Tiere", donnert die Dekanin, als sei ihr überladener Schreibtisch eine Kundgebungstribüne. „Alle sehen das, alle fühlen das. Alles kocht."

Emanzipation & konservative Religiosität, geht das zusammen? Das Frauenideal der stimmgewaltigen Dekanin ist 1400 Jahre alt: Aisha, die gelehrte Frau des Propheten. Nur Berufstätigkeit garantiere ein erfülltes Leben, sagt die Professorin, doch müssten Rollenkonflikte „harmonisch  gelöst" werden, ohne Geschlechterkampf. Weibliche Mehrbelastung zu bewältigen, dabei helfe der Glaube.

Einst war die Einheit des Wissens das Ideal der Moschee-Universität. Der Arzt war zugleich Philosoph; Medizin, Astronomie und Mathematik galten als islamische Wissenschaften. Unter osmanischer Herrschaft wurde die Azhar später auf religiöse Fächer und Arabistik reduziert. Vor vier Jahrzehnten kehrten Natur- und Humanwissenschaften in modernem Gewand zurück - mit Lehrstoff, Geräten und Forschungserfolgen, die allesamt die Handschrift des Westens tragen. Wie an den säkularen Unis Ägyptens wird Medizin an der Azhar mit englischsprachigen Büchern unterrichtet.

Demütigend das Gefühl, dem Westen stets hinterherlaufen zu müssen - zumal in einer Lehranstalt, deren Alter an die einstige Überlegenheit der islamischen Zivilisation erinnert. Bei einigen radikalen Dozenten ist die Kritik an der Einführung säkularer Fächer nie verstummt: Die Azhar habe dadurch ihr Renommee verloren. Andere treibt die Sehnsucht, Wissen und Glauben auf moderne Weise zu versöhnen, etwa durch eine „islamische Psychologie". Sie setzt in der Analyse auf klassische Methoden, in der Therapie auf den religiösen Faktor. Wenn junge Frauen an unbewussten Schuldgefühlen leiden, würden entspannende Koranverse Depressionen  vorbeugen.

In der medizinischen Ausbildung wird „islamische Ethik" betont; sie kontert das westliche Negativbild vom blutigen Islam. Der religiöse Arzt sei der bessere Arzt, denn er sehe im Patienten zuerst den Menschen, nicht den Fall. -

Ein Klassenzimmer, leicht heruntergekommen, mit engen Holzbänken und einer Kreidetafel, davor steht ein blinder Lehrer. Konzentriert lauschend wiegt er den Kopf, klatscht dazu rhythmisch in die Hände.  Der Student in der ersten Bankreihe versucht den Rhythmus zu halten mit seinem leicht quäkend klingenden Spechgesang. Noch einmal!, herrscht ihn der Lehrer an, scharrt ungeduldig mit den Füssen. Etwas war unrein, ein minimal falscher Ton, vielleicht ein A eine Nuance zu lang.

Was in diesem Raum geschieht, führt ins Innerste islamischen Glauben, zur Verehrung des Koran als Gottes ureigenem Wort. In diesem kleinen Azhar-Institut wird Qara'at gelehrt, das ist die Wissenschaft, den Koran phonetisch korrekt zu lesen und vorzutragen. Ein umfangreiches Regelwerk legt die Rezitation bis ins kleinste Detail der arabischen Aussprache fest - und das, je nach Zählung, in sieben, 14 oder sogar 20 streng durchreglementierten Varianten. Acht Jahre intensives Studium sind nötig, sagt der Instituts-Direktor, um es zum „wahren Meister" zu bringen.

Jede Rezitation des Koran ist eine Erinnerung an die ursprüngliche Offenbarung, ein geheiligter Akt, ein Sakrament, in seinem Stellenwert mit dem christlichen Abendmahl vergleichbar - und nicht mit dem Lesen der Bibel. Zum belehrenden Effekt einer Rechereche an dieser Universität gehört, dass man das irgendwann begreift: Der Koran ist für die Muslime, was Jesus für die Christen ist. Darum all der Aufwand, die beflissene Akkuratesse, darum auch das Auswendiglernen.

Es gibt eine Belohnung Gottes für jeden Buchstaben, so glauben es die vier Mädchen, zehn- bis 14jährig, die sich in einer Gebetsnische der Azhar-Moschee im Schneidersitz niedergelassen haben. Eine Micky-Maus-Handtasche steht in ihrer Mitte, sie lernen die ersten Suren. „Wer den Koran kann, kommt ins Paradies", sagt eines der Mädchen; sie will Ärztin werden.

Zuerst die Laute, dann der Inhalt -  interpretieren lernen Koranschüler erst später. Die Kultur des Auswendiglernens färbt auch die Aneignung säkularen Lehrstoffs. Westliche Gastdozenten sind überrascht, wenn ein ganzer Hörsaal das Vorgetragene automatisch nachspricht.  

Allgegenwärtig ist der Koran in der Azhar; er ruht als zerfledderte Miniaturausgabe unter einem Kopfkissen im Wohnheim der Jungen, liegt auf dem Schoss eines eingenickten Pförtners, wird im Gebäude des Großscheichs als überdimensionales Geschenk des lybischen Staatspräsidenten Ghaddafi zur Schau gestellt, unter Glas und handgemalt. Kein Büro ohne kalligraphierte Sure. Und für uns, noch ein Geschenk, die 99 Namen Allahs, glitzernd auf einem großen Spiegel.

Makellos muß die Schriftfassung der Offenbarung sein. Experten der Azhar prüfen jede neue Druckvorlage des Koran, nicht etwa mit dem Computer, sondern mit dem geübten Auge, fahren mit dem Zeigefinger über jedes Konsonant-Pünktchen und jedes Vokalstrichlein des Arabischen, und wenn ein Pünktchen fehlt, dann kommt dieser Koran nicht unter die Gläubigen.            

Etwa 5000 Bücher pro Jahr werden im Forschungszentrum der Azhar überprüft; die Sammelziffer umfaßt Koranausgaben ebenso wie Romane, die in den Verdacht der Gotteslästerlichkeit gerieten. Eine seltsame Addition - aus Sicht der Religionshüter wird die Gemeinde jedoch in beiden Fällen vor möglichem Schaden bewahrt.

Scheich Abdel Azim Al-Mat'any, 72 Jahre alt, ist an der  Azhar der angesehenste Zensor. Ein rüstiger Greis mit erstaunlich kräftigem Händedruck und schelmischer Miene. Der Literaturkritiker prüft, ob ein Buch vereinbar sei mit dem Islam. Al-Mat'any legt seinen Krückstock beiseite und spricht über moralische Hygiene. „Mit Büchern ist es wie mit Lebensmitteln. Soll man gesunden Menschen verdorbenes Essen geben? Die meisten jungen Leute sind religiös und gut, aber Vorsorge ist besser als Behandlung." Neulich schickte ihm ein besorgter Vater einen Gedichtband, „Die 10 Gebote der Frauenliebe". Ob es denn stimme, dass eine Frau mehr als einen Mann haben könne, wie das Buch empfahl? Vielmännerei -  das ist gegen die Familie. Al-Mat'any schrieb ein Gutachten, wenig später wurde das Buch vom Innenministerium verboten.

Aus Sicht der Azhar betreiben ihre Bücherbegutachter eine Art Verbraucherschutz. Sie dürfen nur aktiv werden, wenn ein Bürger auf verdächtige Lektüre hinweist. Doch beschlagnahmten sie auch schon ungefragt auf der Kairoer Buchmesse, vergriffen sich einmal gar an 2000 Exemplaren der „Geschichten aus 1001 Nacht". Vor vier Jahren lieferten sich 30 000 Azhar-Studenten eine Straßenschlacht mit der Polizei - wegen eines Buches, das sie für blasphemisch hielten. Die Mädchen standen an der Spitze des Protests.

Schriftsteller und säkulare Intellektuelle kritisieren solche Kampagnen als Vergiftung des Klimas, als Ermutigung für Extremisten. Aber Ägyptens Gesellschaft ist mehrheitlich religiös; die Freiheit der Kunst wird hier anders definiert als im Westen. „Die Kunst ist für die Gesellschaft da, sie soll nicht l‘art pour l‘art sein", sagt Al-Mat'any. „Den religiösen Konsens soll niemand verletzen."

Empfindlich reagieren Azhariten allerdings auch, wenn ihnen auf dem hauseigenen Terrain Konkurrenz gemacht wird. Kürzlich kam ein Buch des Islam-Gelehrten Gamal Al-Banna auf den Index - nachdem es bereits zehn Jahre auf dem Markt war. Wütend schickte der 84jährige Autor den Zensoren gleich acht weitere seiner Werke. Al-Banna, ein Bruder des legendären Gründers der Muslimbruderschaft, nennt die Azhar „einen Feind der Erneuerung", „gefesselt an die Tradition". -

Wer zur Stunde des Gebetsrufs von einer Anhöhe auf Kairos Altstadt blickt, der glaubt die Töne zu sehen. Hier schleppend, dort eilend werfen sie sich übereinander und gegeneinander, verspotten sich im Echo zwischen den engen Mauern, dampfen schließlich aus Türmchen und Fensterchen erschöpft in den blaugrauen Himmel. Soviel Chaos und Dissonanz - ist dies das Klangbild des weltweiten Islam? Die Azhar will in der Vielstimmigkeit der Bariton sein, sonor und konservativ. Aber wird sie gehört?

Termin bei Seiner Eminenz, dem Großscheich. Sheikh Al-Azhar, the Grand Imam, der Hüter sunnitischer Rechtgläubigkeit. Ein paar Minuten Fußweg von der Moschee entfernt steht leicht erhöht sein siebenstöckiger Neubau, er ähnelt einem aufgeklappten Buch, es blickt auf die Welt. Davor ein einsamer schwarzer Mercedes. Es ist 8 Uhr früh, über Kairos Kuppeln liegt milchiger Dunst. Fadilatikum, flüsternd üben wir die arabische Anrede, den roten Teppich hoch, im ersten Stock ein Schwarm Leibwächter.

 Fadilatikum nimmt von unserem Eintreten kaum Notiz. Dämmerlicht, dunkle Täfelung, schwere Vorhänge halten den Morgen draußen. Der 76jährige Mohammed Sayed Tantawi empfängt in einem zu großen Sessel-Geviert, zu seiner Rechten drei Telefone, bitte Ihre Fragen, er greift nach einem antiken Folianten, zählt darin etwas ab, anscheinend langweilen wir ihn. Sein Büroleiter kommt herein, beugt sich geschmeidig zum Handkuss über den alten Mann und klopft im nächsten Moment dem Reporter aufs Knie: Beine übereinander schlagen gehört sich nicht vor Seiner Eminenz!

Ein bizarres Gespräch. Der Großscheich irritiert abwechselnd durch gespielte Ahnungslosigkeit und durch provokante Attacken. Soll Deutschland doch die Todesstrafe einführen, um Terroristen abzuschrecken! Ha, wollt Ihr nicht? Dann beschwert Euch nicht!

 Im Westen gilt Tantawi als liberal: Er pflegt den Dialog, er kritisierte die Frauenunterdrückung bei den Taliban und verurteilte schon vor Jahren die in Afrika verbreitete Beschneidung weiblicher Genitalien als „unislamisch". Als ihn im vergangenen Jahr der französische Innenminister aufsuchte, gab Tantawi ihm - zum Entsetzen der ägyptischen Presse - grünes Licht für das Kopftuch-Verbot an Frankreichs Schulen: Gesetzestreue sei wichtiger als die Verschleierung. „Wenn einer Muslima das missfällt, soll sie an eine islamische Privatschule gehen", setzt er jetzt im Interview nach.

Unter Muslimen ist Tantawi wenig populär, weder auf Kairos Straßen noch bei den Gelehrten der Azhar. Zu nah sei er dem ägyptischen Regime, zu gefügig dem Präsidenten Mubarak, der ihn berufen hat. Ein „Theologe der Macht", oft lavierend. Die Händler auf dem Bazar wärmen sich das Herz an Anekdoten über die Volksnähe einstiger Großscheichs: Einer sei, sobald er einen Anflug von Hochmut verspürte, in die nächste Moschee geeilt, die Toilette zu putzen.         

Die Autorität eines Großscheichs beruht ausschließlich auf Respekt. Der Islam hat keinen Papst, kennt keine Hierarchie, prinzipiell kann jeder der Imam, der Vorbeter sein, und jeder darf den Großen Imam kritisieren. Wie an jenem Freitag während des Irakkriegs, als Tantawi oben auf der steilen Kanzel der Moschee predigte; zu zahm war der Menge seine Kritik an den USA, wütende Rufe unterbrachen ihn: „Sprich die Wahrheit! Du bist der Großscheich!"

Ein islamisches Machtwort, eine Enzyklika gegen die religiöse Rechtfertigung von Terrorismus, kann es unter diesen Umständen nicht geben. Als Tantawi in einer Fatwa palästinensischen Selbstmordattentätern den Märtyrer-Status absprach, erntete er soviel Kritik von anderen Azhar-Scheichs, dass er sich „korrigierte" - so formulieren es fein die Kritiker.

Seit Chomeinis Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie übersetzen viele Nicht-Muslime diesen Begriff irrtümlich mit Todesurteil. Doch eine Fatwa ist schlicht ein Rechtsgutachten, eine religiöse Empfehlung - ihr zu folgen, ist im sunnitischen Islam keine Pflicht. Der Gläubige kann andere Meinungen einholen, bis er eine für sich Passende findet - eine überraschend pragmatische Seite des Islam.

Wie seit Jahrhunderten gehen jeden Vormittag Ratsuchende zum Fatwa-Komitee in einen Seitenflügel der Azhar-Moschee, suchen Orientierung für die Probleme des Alltags. Durch die offenen Fenster dringt das Stimmengewirr des Bazars in den Saal, unter betagten Kronleuchtern sitzen Scheichs auf zerschlissenen Sesseln, vertieft in murmelnde Beratungen.

Eine junge Frau kommt herein, selbstbewusst, modisch gekleidet; sie holt eine schriftliche Fatwa ab, bekommt ein handgeschriebenes und leicht zerknittertes Blatt. Der Verlobte hatte sie verlassen, verlangt nun den geschenkten Goldschmuck zurück. Das aber, lautet die Fatwa, darf er nicht. Ob ihn das Papier aus der Moschee beeindrucken wird?  „O ja", sagt die junge Frau, „das wird ihn sehr beeindrucken." Sie wirkt siegesgewiss, als hätte sie dem Entlaufenen gerade einen schönen Streich gespielt.

Im 85köpfigen Fatwa-Komitee sitzt keine einzige Frau. Gleiches gilt für den einflussreichen Forschungsrat der Azhar: Über theologische und ethische Grundsatzfragen entscheiden dort 26 Scheichs, gewählt auf Lebenszeit. 

Eine kleine rundliche Frau, streng verschleiert und mit zahllosen Armreifen behängt, ist gerade dabei, in diese Männerbastion einzubrechen. Souad Saleh, 58, Kandidatin für die exklusive Runde der Scheichs, war einst unter den ersten Studentinnen an der Azhar; jetzt genießt die Professorin für islamisches Recht den Ruf des ersten weiblichen Muftis der muslimischen Welt. Häufig tritt sie in den arabischen Satelliten-Programmen auf, beantwortet dort live Fragen aus diversen Ländern. 

Wir treffen sie in ihrem karg möblierten Büro auf dem Campus. Am Vorabend hat sie bis um zwei Uhr nachts Fernseh-Fatwas erlassen, nun von Müdigkeit keine Spur. „Der Islam unterscheidet nicht zwischen Kompetenzen für Männer und für Frauen", erklärt sie entschieden. Ihr Mobiltelefon steht kaum still; andauernd geht die Tür auf, jemand kommt herein, will eine Fatwa. Ein Mann sagt: „Ich kenne Sie aus dem Fernsehen", dann breitet er ein bizarres Scheidungsproblem aus.

Überwältigend groß scheint das Bedürfnis nach Orientierung. Für viele Muslime ist Religiosität, auch demonstrativ gelebte Religiosität, wichtiger geworden. Zugleich wird die Zahl der Antworten immer verwirrender. Durch Internet und Satelliten-TV entsteht ein Fatwa-Wildwuchs; oft seien die Urheber der Rechtsmeinungen nicht ausreichend qualifiziert, klagt die Professorin Saleh.

Al-Azhar, die Blühende, ist zu verstaubt, um auf diese Herausforderungen zu reagieren. Nur sehr zögerlich verlieh der Großscheich einer kommerziellen Telefon-Hotline das Azhar-Prüfsiegel. Der Fatwa-Service ist vollautomatisch und anonym, der Fragesteller wird nach zwei Minuten abgeschnitten, der  antwortende Scheich nach vier. Eine Million Muslime nutzten die Hotline bisher, sie ist anwählbar aus 15 Ländern, auch aus Deutschland.

 Testfrage: „Ich bin eine verheiratete Frau. Darf ich mit anderen Männern chatten?" 24 Stunden später unter einer PIN-Nummer die Auskunft: „Die verheiratete Muslimin soll sich mit ihrem eigenen Mann zufrieden geben."

Scheich Bayoumi, den wir zu Hause besuchten, ist ein Mann für die gewichtigeren Fatwas. Als Mitglied des einflussreichen Forschungsrats befasst er sich gerade mit der Definition von Hirntod; im ägyptischen Parlament ist Bayoumi die Stimme der Azhar.  „In vielen ethischen Fragen gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zum Westen", sagt der Scheich. Aber Ehe und Familie stehen immer obenan. „Künstliche Befruchtung ist zwischen Eheleuten erlaubt. Aber den Samen des Mannes nach seinem Tod zu verwenden, ist nicht erlaubt. Denn das wäre außerhalb der Ehe."

In Bayoumis Salon hängt hinter Glas eine Replika der vergoldeten Tür zur Kaaba, dem Heiligtum in Mekka. Zweimal durfte er hinein, das ist nur wenigen Muslimen vergönnt. Er ging die schmale Treppe hoch, ins dunkle Innere des Schreins. Was war das für ein Gefühl? „Aaah!" Er atmet tief durch. „Beten, wo der Prophet gebetet hat! Segen. Licht. Ein solches Gefühl von Vollkommenheit." -

Als Shaker El-Rifai das erste Mal in Deutschland war, wusste er nicht, wo er beten sollte. Und ob man so etwas überhaupt darf, auf dem Frankfurter Flughafen. Bei seinem zweiten Besuch fiel die Mauer; der Azharit besaß ein Stipendium für ägyptische Germanisten, das letzte der DDR. Beim dritten Besuch las er durch „Durch die Wüste" und beschloss, über das Islambild von Karl May zu promovieren.

Der Mann aus dem Nildelta, mittlerweile Dozent für Germanistik an der Azhar,  war unser Übersetzer. Erst ganz zum Schluß erzählte er uns dies: Wie ihm der Neonazi in Leipzig  das Klappmesser auf die Brust setzte und brüllte: „Du bist ein Ausländer!" Oder wie er sich vor Skinheads auf eine Toilette flüchtete, die Tür verrammelte und dann sah, wie aus der Nachbarkabine die Blutspur über die Kacheln lief. Er hat das nie erzählt, seinen Eltern nicht und seinen Studenten nicht. Weil es schwer ist, über Demütigung zu reden. Und weil er doch Liebe zur deutschen Kultur wecken will.

Nun wird er das alles erneut übersetzen müssen, diesen ganzen Artikel. Der Rektor wartet schon, auch die Studenten. Sie werden sich über unsere Zeilen beugen und Wort für Wort prüfen, ob wir Brücken bauten oder noch mehr Gräben aufrissen. Manchmal sitzt man auf zwei Stühlen, sagt der Übersetzer.  -

*mit Daniel Steinvorth