Papuas Trauma

In Indonesiens fernem Osten: Freiheitskampf mit Pfeil und Bogen

Wasserland, so nennen die Indonesier ihre Heimat. Grenzenlos erscheint dem Reisenden dieser Archipel, unfassbar seine Ausmaße: 5000 Kilometer Luftlinie, drei Zeitzonen, 18 585  Inseln, tausende unbewohnt. Sechs Stunden dauert der Flug von der Hauptstadt Jakarta nach Neuguinea, zum entlegendsten Ende eines extremen Landes: Indonesiens wilder Osten.

Die Wildheit trägt gedeckte tropische Farben, ein Luftbild in Dunkelgrün und Hellbraun. Grün der endlose Dschungel, braun die sedimenthaltigen Flüsse. Kaum Straßen, ein paar wenige Städte - auf einem Territorium so groß wie Deutschland, Belgien, Holland zusammen. Und das ist nur das halbe Neuguinea; nur seine westliche Hälfte ist indonesisch, denn nur sie war holländisch. Die Grenzziehung markiert das Erbe der Kolonialzeit: Ohne die Gier der Holländer nach Gewürzen und Einflusssphären wäre jenes multiethnische Gebilde nie entstanden, das heute Indonesien heißt. Am östlichen Ende des Reichs ist auf die kolonialeVergangenheit eine koloniale Gegenwart gefolgt. Die gleichmütigen Farben der tropischen Wildnis verdecken, dass dort unten ein Kampf in klassischem Kolorit stattfindet: schwarz gegen weiß. 

 Papua, so darf die Provinz sich nun nennen, ein Zugeständnis an die Rebellion. Im Wort Papua steckt die Andeutung von krausem Haar, die Papuas sind Melanesier, sie wollen sich befreien von den Glatthaarigen, Weißen, den Indonesiern. Wer diesen Kampf verstehen will, muss der Spur der Leiden folgen, sie führt ins Hochland, ins Herz der Bewegung.

Gemüsegärten überziehen das fruchtbare Tal des Baliem-Flusses mit einem Schachbrettmuster von Grüntönen, dazwischen winzige Dörfer, Rundhütten im Kreis, ihre Grasdächer ducken sich wie Pilzköpfe in die weite Landschaft. Ein langer Fußmarsch, dann stehen hinter einer Wegbiegung plötzlich drei schweigsame Gestalten, sehr aufrecht, sehr ernst, mit Muschelketten und Pfeil und Bogen. Eine barfüssige Eskorte für die letzte Stunde Wanderung nach Ergayam, ein Dörfchen der Unabhängigkeitsmiliz. Neben einem Arsenal von Pfeilen wartet der Kommandant, in Gummistiefeln wie Rangabzeichen. Er salutiert zackig und stößt dabei einen heiteren Vogellaut aus: „Wa-wa-wa-wa", das heißt Willkommen in Lani, der Sprache seines Stamms.

In der halbdunklen Hütte des Kommandanten haben sich die 20 Männer des Dorfs versammelt. Sie sitzen um ein Feuer und schluchzen. Die Luft ist schwer von Rauch und herbem Schweiß. Das Schluchzen begann unvermittelt, begleitet von einem klagenden Sprechgesang. Der Vorschluchzer wischt ab und an den Schleim aus seiner Nase am Gras des Hüttenbodens ab, dann plötzlich Stille.

Die Männer im Hochland tun öfters erstaunliche Dinge, erstaunlich für unsere Augen und Ohren. Sie lassen Fingerknöchel schnalzen zum Zeichen der Freundschaft, stecken sich Papageienfedern ins Haar, bewundern sich in Taschenspiegeln und lachen ein hohes, ansteckendes Frauenlachen.

Mit diesem rituellen Weinen in der halbdunklen Hütte wird ein Gast begrüßt, einbezogen in rituelle Trauer, in die Erinnerung an eine lange Zeit des Verlassenseins. Viele Jahre hat es die Außenwelt nicht interessiert, mit welcher Gewalt Indonesien die Papuas unter seine Herrschaft zwang. Verlassen zu sein, vergessen und verachtet, das ist Papuas Trauma.

Ergayam erzählt von diesem Trauma, auf karge Weise. Nichts Großartiges, nichts Heroisches liegt über diesem Vorposten einer Guerilla mit Pfeil und Bogen. Sie nennt sich „Operation Freies Papua", wenn sie sich verborgen hält; hier, im Halb-Verborgenen, nennen sich die Männer Satgas Koteka, Penisköcher-Miliz. Keiner von ihnen trägt tatsächlich den Flaschenkürbis. Er ist vielmehr ein politisches Symbol, ein trotziges Bekenntnis zu einer als primitiv verachteten Kultur. Die Missionare, die Papua christianisierten, haben den Penisköcher innig verabscheut; ebenso hielten es jene javanisch-muslimischen Lehrer, die später in die schwarze Provinz kamen.

Alles ist von Ergayam fünf Stunden Wanderung entfernt: Telefon, Elektrizität, Nachrichten. Die Frauen kommen heute erst bei Anbruch der Dunkelheit zurück, es war Markttag, sie sind die fünf Stunden zweimal gelaufen, Leichtfüßige mit schwerer Last; von der Stirn hängt der Häkelsack aus Pflanzenfaser tief den Rücken hinunter, mit Süßkartoffeln, Gurken, Kind.

Fünf Stunden Entfernung trennt jeden auswärtigen Zuschauer vom Wichtigsten in Ergayam, von seinem Signal an die Welt: zwei kleine Stücke verblichenen Tuchs. Sie wehen hochoben über den Grasdächern, hellblau das eine, die Fahne der Vereinten Nationen; das andere zeigt blau-weiße Streifen und einen weißen Stern in rotem Feld, die Morgensternflagge eines unabhängigen Papua.

Morgens um sieben stapfen drei barfüssige Männer in ungelenkem Stechschritt über den Lehmboden zwischen den Pilzkopf-Hütten. Kommandorufe, Fahnenhissen, das Häuflein Dorfbewohner halbnackt salutierend im eisigen Frühwind; die Frauen drücken die hängenden Brüste heraus. Abends, bevor die Dunkelheit über den Dorfzaun fällt, wieder tapsender Stechschritt, Einholen der Fahnen. Meistens verpröddelt sich die Schnur, der Fahnenmast ist nur ein dünner Baumstamm mit einem Nagel hochoben.

Ein stoisches Ritual, ein zelebriertes Warten, tagaus, tagein. Seit vier Jahrzehnten, im Takt von Unterdrückung und Hoffnung. Hoffnung hisste die Fahnen 1961, da erklärte sich Papua erstmals für unabhängig; noch standen die Holländer im Land. Zwei Jahre später war Papua indonesisch. Ergayams Freiheitswimpel gingen auf und nieder bis 1977, da wagte die Guerilla den Aufstand mit Pfeil und Bogen. Jakartas Armee kam mit Granatwerfern, hinterließ Massengräber, es wehte kein Wimpel mehr, für lange Zeit. 1998 stürzte der Diktator Suharto, ganz Indonesien erlebte einen Frühling der Demokratie, Papua hoffte auf  Freiheit, und seitdem läuft in Ergayam wieder die Schnur über den Nagel, tagaus, tagein.

In der halbdunklen Hütte haben die Männer ihre Nelkenzigaretten an der Glut des Feuers angezündet. Sie träumen von Waffen, von richtigen Waffen, sie wollen alle Indonesier vertreiben. Der Kommandant erzählt von seiner Gefängnishaft, von Elektroschocks; die Männer hassen Indonesien - und reden über ihren Hass auf indonesisch.

 Die Lingua franca im Inselreich der vielen Völker ist auch die Verkehrssprache im Papua der vielen Stämme geworden. Eine Million Papuas verteilt sich auf ein linguistisches Universum von 250 Sprachen. In die Kladde des Kommandanten schreiben die Kuriere der Unabhängigkeitsbewegung als Besuchszweck pathetisch: Merdeka, Freiheit! Merdeka war die Losung der Einheit im antikolonialen Kampf gegen die Holländer, Merdeka war die kühne Vision eines Nationalstaats auf 18 585 Inseln. Nun kommt der Freiheitsruf wie ein spätes Echo zurück von den Peripherien des Archipels, als Losung des Abschieds, der Trennung. Aceh Merdeka an der Nordspitze Sumatras, Papua Merdeka 5000 Äquator-Kilometer weiter östlich. Und wie im streng muslimischen Aceh hat im mehrheitlich christlichen Papua Indonesiens Militär mit Gewalt den Trennungswunsch in die Hirne und Herzen gebrannt. Im hochfahrenen Bewusstsein, Hüter der nationalen Einheit zu sein, gebärdeten sich Jakartas Soldaten wie eine koloniale Armee.

Die Zukunft kehrt zurück zur Vergangenheit - das ist die Botschaft von Ergayam. Die ersehnte Freiheit ist die Freiheit von fremden Einflüssen, Freiheit schmeckt nach rauchgeschwärzter Süßkartoffel, nach Sago-Fladen und Taro-Wurzel, und beim Reis beginnt das Fremde. Von einer Anhöhe aus zeigt der Kommandant mit Genugtuung: Soweit das Auge reicht kein Zeichen moderner Zivilisation, kein Entwicklungsprojekt der Regierung. Abends zerreißen die Dörfler ein gebratenes Schwein mit den Händen, essen das Fleisch vom bloßen Grasboden. In der Frauenhütte husten die Kinder im Schlaf vom ewigen Qualm des Feuers.

 Westliche Ethnologen haben das Baliem-Tal lange durchstreift wie ein Museum der Menschheit auf 1600 Metern Höhe. Hier konnten sie archaische Lebensweisen und Verhaltensmuster studieren, die anderswo längst verdrängt waren durch technische Moderne und psychologische Sublimierung. Der Dani-Stamm und die mit ihnen verwandten Lani zählen rund 200 000 Menschen,  Papuas größte Ethnie. Sie entwickelten vor 5000 Jahren eine damals hochmoderne Kultur des Gemüseanbaus, der Bewässerung und der Schweineaufzucht, und sie fanden in den folgenden Jahrtausenden an ihrem Leben wenig verändernswert.

Jakartas Soldaten kamen ohne ethnologisches Interesse. Drei Jahrzehnte lang kollidierte das Selbstbewusstsein einer archaischen Hochkultur mit der indonesischen Verachtung für die nackten Eingeborenen. Die Hochländer waren von je her kampfeslustig, mit Freude an prächtig inszenierten, doch möglichst verlustarmen Schlachten. Ihre Auffassung von Kampf endete vor den Läufen indonesischer Gewehre. Auf zigtausende werden Papuas Tote geschätzt, Männer, Frauen, Kinder. 78 unmarkierte Friedhöfe liegen allein im Baliem-Tal, unter Gestrüpp und Kartoffelfeldern. Im Schulunterricht sind die Massaker ein Tabu. Wer über sie spricht, senkt die Stimme zum Flüsterton.

Der schlimmste Terror mag heute vorbei sein, jene hemmungslose Gewalt, die keine Strafe, keine Zeugen fürchten muss. Doch die Erinnerung an alltägliche Brutalität und völlige Rechtlosigkeit beherrscht die Wahrnehmung der Gegenwart. Die Indonesier würden Papua-Frauen mit glühenden Stöcken vergewaltigen, erzählt eine Hochländerin. Auf die Frage, wo das geschehe, antwortet sie: Überall.

 Nur ältere Männer tragen heutzutage noch nackte Haut zum Penisköcher, nur ältere Frauen den Rock aus Pflanzenfaser. Aber allein im Hochland zählen sich 8000 Männer zur Penisköcher-Miliz - und einige haben eine E-mail-Adresse. Die Steinzeit, Papua im Klischee, ist vergangen. Geblieben sind die Accessoires des Primitiven; sie zu zeigen gehört zur Polit-Kultur auch in moderneren, städtischen Sektoren der einheimischen Gesellschaft. Das demonstrativ Indigene unterstreicht den Willen zur Selbstbestimmung - ähnlich wie der sogenannte „Papua-Merdeka-Look": Junge Männer und Frauen drehen sich das krause Haar mit Schweinefett zu Rasta-Locken, dazu Bob Marley auf Kassette, und in den Augen Stolz auf schwarze Haut. Die jungen Papuas wirken wie Kinder verschiedener Zeiten, schon angeweht von kultureller Globalisierung, doch im nächsten Moment können sie einen Besucher mit der Frage erstaunen: „Habt ihr in Amerika auch Coca Cola?"

Vereinzelte Touristen suchen im Baliem-Tal die Steinzeit; ihre Führer sind geschäftstüchtige junge Penisköcher-Milizionäre, sie bringen die Touristen zu den nackten Alten. Der 70jährige Dorfchef Yali Mabel stellt seinen muskulösen Körper lustvoll zur Schau, Schweinefett glänzt auf Stirn und Schultern. Behende klettert er den Pfahl eines Wachtturms hinauf, von dem aus früher die feindlichen Stämme gesichtet wurden, oben spielt er den Affen, ein beliebter Fotoshot, die Dollars erhalten die Steinzeit. Seine Söhne und Enkel wechseln schnell von den Shorts zum Flaschenkürbis, wenn Besucher kommen. Yali war schon in Tokio, die Japaner mögen Steinzeit besonders, der Alte imitiert höchst belustigt, wie sie ihn fotografierten - es muss ausgesehen haben, als seien sie alle Affen auf Wachttürmen. -

Wamena ist das einzige Städtchen im Baliem-Tal. Stadt, das bedeutet in Papua: ein anderes ethnisches Muster. Im Dorf sind die Papuas unter sich, das indonesische Militär ist der Feind von außen. In der Stadt leben indonesische Zivilisten, Zuwanderer.

Wamena könnte idyllisch sein: 8000 Einwohner, schmale Straßen, viel Grün zwischen einstöckigen Holzhäusern, und rundum das Panorama der Berge. Aber schlechte Stimmung liegt wie eine Wolke über Wamena, eine Wolke aus Missmut und angestauter Aggression. Besonders drückend ist sie über dem Markt, wo sich Irian-Straße und Sulawesi-Straße kreuzen. Die Papua-Frauen sitzen auf dem Boden im Dreck mit Karotten, Tomaten, Chili; dahinter Laden neben Laden - alle gehören Indonesiern. Taschen, Töpfe, Garne, Schuhe, Christusbilder, alles kommt per Flugzeug, das Tal wird aus der Luft versorgt, und kein Papua ist an diesem Handel beteiligt. Der Elektriker, der Schneider, die Imbissbudenbesitzer - Indonesier.

Viele Geschäfte sind bloße Bretterbuden, doch die Papuas betrachten sie mit stummer Wut. Einen Kiosk zu betreiben erfordert ein bescheidenes Anfangskapital und ein bisschen Kenntnis der Handelswelt; beides haben sie nicht. Mürrisch hängen die Papua-Männer herum, hocken in Gruppen am Straßenrand, spucken rote Betelnuss-Spucke in weitem Bogen und warten, was passiert. Die Bezirksregierung hat den Bierausschank verboten, manche besorgen sich Spiritus aus dem Krankenhaus, 75prozentig.

Schönes Wamena, blutiges Wamena: Die Wut explodierte an einem Oktobertag im Jahr 2000, seitdem lebt die Stadt im Schatten dieses Datums. Der Konflikt begann wie viele andere in der Provinz: Papuas hissten die Unabhängigkeitsflagge, die Polizei erschoss fünf Menschen, prügelte einen zu Tode. Aber diesmal rüsteten die Papuas zum Krieg, sie griffen Messer, Steine, zugespitzte Stöcke, kamen mit brennenden Scheiten, mit Pfeil und Bogen. Hass machte sie zum Mob, der die gemäßigten lokalen Führer der Bewegung beiseite schob, die Pastoren und Lehrer. Der Mob machte keinen Unterschied zwischen Uniformierten und unschuldigen indonesischen Zivilisten; die Leichen schwammen im Wamena-Fluß. Eine Familie aus Kalimantan, Borneo, saß gerade beim Mittagessen, als ihr Haus in Flammen aufging. Nach drei blutigen Tagen zählte Wamena 64 Tote, 40 von ihnen Indonesier.

Nun diktiert Angst trügerischen Frieden. Die Indonesier haben gelernt, die Wut der Papuas zu fürchten; wer die Kraushaarigen verachtet, zeigt es nicht mehr so offen wie früher. Und die Papuas fürchten ohnehin das Militär. Im kleinen Imbissrestaurant essen links die Einheimischen, rechts die Zugewanderten, Zähnestochern links und rechts, und dazwischen ein Schweigen.

Es wäre einfach, es bei diesem Bild zu belassen. Ein Bild in Schwarz-Weiß, Papuas gegen Indonesier, die Papuas geeint. Die Wirklichkeit ist komplizierter.

Plötzlich Unruhe in Wamenas Straßen. Von zwei Seiten traben Papuas im Laufschritt zur Wiese neben der städtischen Polizeistation. Sie kommen aus zwei Dörfern der Umgebung, genauer gesagt: Es ist die männliche Einwohnerschaft zweier Dörfer. Sechs Stunden werden sich die beiden Gruppen auf der Wiese gegenübersitzen, unter praller Sonne. Es sind zwei Morde geschehen, der erste aus sexueller Eifersucht, der zweite aus Rache für den ersten Mord, die Kette droht sich fortzusetzen, nur Verhandlung kann Krieg zwischen den Dörfern abwenden. Schweine stiften Frieden - Schweine sind das traditionelle Maß des Reichtums, die Währung auch für Kompensation. Die Klans beider Mörder müssen je 100 Schweine aufbringen, das ist viel, andere Familien müssen beisteuern, die ganze Dorfgemeinschaft leidet unter der Tat eines Einzelnen.

Gemeinschaft spielt eine überragende Rolle unter den Papuas, doch es ist nach ihrer Sittentradition stets der Zusammenhalt einer kleinen Gemeinschaft - Stamm, Dorf, Klan, Großfamilie. Früher galt das Prinzip: ein Stamm, ein Territorium; benachbarte Stämme waren sich oft besonders feindlich. Längst haben Wanderungsbewegungen das Territorialprinzip aufgeweicht, aber im Sozialverhalten spiegelt sich oft noch das alte Muster. Schnell flackern Rivalitäten auf, Misstrauen ist rasch bei der Hand, Schuldvermutungen wiegeln einen Männerbund gegen den anderen auf.

Die Unterdrückung durch Indonesien hat die Papuas vereint - aber macht Terror eine Nation? Einheit gegen den Feind ist der Kitt, der die Stämme zusammenhält, aber die Einheit ist stets gefährdet. Wer den Kitt unzerbrechlich machen will, rührt Religion und Rasse hinein. Das freie Papua wird ein christlicher Staat! Wir trauen keinem Muslim! Sieh` auf unsere Haut, wir sind Melanesier, wir passen nicht zu Indonesien! So enden viele Gespräche im Hochland - als sei alles andere, das Leid und die Geschichte, nicht genug. -                                                            

Die Geschichte. Immer drängt sie sich ins Bild, ohne Kenntnis der Geschichte ist nichts zu verstehen. Warum die Unterdrückung, warum der Hass? Und warum lässt Indonesien Papua nicht einfach gehen?

Den Haag, 1949: Als Holland nach einem vierjährigen Kolonialkrieg gegen die junge indonesische Republik endlich die Unabhängigkeits-Vereinbarung unterzeichnete, stand auf dem Papier ein Kompromiss: „Vereinigte Staaten von Indonesien", eine Föderation, unter Ausschluss von West-Neuguinea. Deren melanesische Bevölkerung sei ethnisch zu verschieden, argumentierten die Holländer. Tatsächlich wollten sie wohl die Hand behalten auf den Ölvorkommen an Neuguineas Nordwestküste. Auf der anderen Tischseite saß ein Mann namens Sukarno; Indonesiens erster Präsident, ein charismatischer Nationalist. Nur unter Protest akzeptierte er den Kompromiss. Sukarno und seine Mitstreiter hatten die Republik vier Jahre zuvor als Einheitsstaat in den Grenzen des gesamten Kolonialreichs proklamiert. Dabei zu bleiben war eine Frage der Ehre.

Womöglich wäre für das Vielvölkerland eine Föderation zuträglicher gewesen als ein javanisch dominierten Zentralstaat; aber das ist Nachbetrachtung. In der nationalen Logik des jungen Indonesien blieb Holländisch-Neuguinea dreizehn Jahre lang ein Schandfleck auf der Geburtsurkunde der Republik. Als Sukarno das Territorium endlich bekam, war es Feindesland: Die Papuas fühlten sich annektiert und von allen verraten. Die USA hatten Holland zum Rückzug gedrängt, aus geostrategischen Gründen. Die Holländer verabschiedeten sich mit dem Versprechen, die Papuas dürften über ihr Schicksal selbst abstimmen. Die Vereinten Nationen kamen und machten sich schon nach sieben Monaten wieder davon.

Papua hieß nun West-Irian und wurde von der Welt vergessen. Sukarno ließ ein Denkmal bauen, 1963, zur sogenannten Befreiung Irians. Der steinerne Wilde steht noch heute in Jakarta. Ein klobiger, untersetzter Muskelmann; mit übergroßen Händen hat er die Kette zerrissen, die ihn fesselte. Sein unschönes Gesicht ist erstarrt in gequältem Heroismus. Der hässliche Wilde, patriotisch vereinnahmt. Sukarno wird der Satz zugeschrieben: „Ich will das Land, die Affen interessieren mich nicht." Gebildete Papuas zitieren dieser Satz, wenn man sie fragt, was sie von Sukarnos Tochter erwarten, der heutigen Präsidentin Megawati. Und dann lachen sie ein bitteres, helles Lachen.

Die Kette der Unfreiheit zerreißen, das ist in Indonesien Bildersprache ein doppeldeutiges Symbol. Im Staatswappen verkörpert die Kette die Einheit, den Zusammenhalt. Nirgendwo anders im Inselreich hat die jüngere Geschichte den Widerspruch von Freiheit und Nationalgedanken so scharf konturiert wie im Fall Papua.

Um die zwei Sorten Ketten geht es bis heute. Papua will frei sein. Papua ist das Faustpfand der Einheit. -

Ein feuchtheißer Morgen an der Nordküste. Hier hat Papua ein anderes Gesicht als im Hochland, moderner, städtischer, gebildeter. An der Nordküste liegen die politischen und intellektuellen Zentren der Provinz, die Hauptstadt Jayapura, nahebei die Universität - und im Kilometertakt reihen sich die Hauptquartiere diverser indonesischer Militäreinheiten. Irgendwo mitten drin der Staatsgerichtshof.

Jakarta sitzt zu Gericht über die Unabhängigkeitsbewegung an diesem heißen Morgen. Türen und Fenster des Saals stehen weit offen, der Ankläger liest mit dramatischem Tonfall vom Blatt, ein Mikrophon trägt seine Stimme nach draußen über den kleinen Vorplatz, kraushaarige Kinder hängen neugierig am Zaun. Subversion!, Widerstand gegen den Einheitsstaat, gegen die Verfassung!, ruft die dramatische Stimme. Angeklagt: ein Pastor, ein Regierungsangestellter, ein politischer Aktivist, lokale Prominenz.

Aber seltsam: Der Szene fehlt jede Spannung. Der Pastor spielt mit seinem knallroten Mobiltelefon, der Aktivist gibt nebenbei Interviews, der Regierungsangestellte geht von der Anklagebank zurück in sein Büro und leitet weiterhin die Entwicklungsabteilung der Provinz. Als werde hier nur Justiztheater aufgeführt, mit unerheblichem Ausgang. In unsichtbaren Zeichen steht an der Wand des Gerichtssaals: Jakarta, es ist zu spät. Hier sitzt zuviel Selbstbewusstsein, zuviel Gelassenheit, stärker als Pfeil und Bogen.

Vielleicht ist Gelassenheit das falsche Wort. Die Anführer der Bewegung leben mit anonymen Morddrohungen. Es kursieren schwarze Listen, Todeslisten, sie verzeichnen auch die Namen von Menschenrechts-Aktivisten. Gefahr ist überall - und oft nicht greifbar, nicht sichtbar. Eine diffuse Atmosphäre. 

Der schlanke Stamm eines Matoa-Baums markiert die Stelle, wo Jakarta den letzten Rest Ansehen verlor. Ein Stück Dschungel, eine dreiviertel Autostunde von Jayapura entfernt. Gedämpftes Licht unterm Blätterdach, hier wurde die Leiche von Theys Eluay gefunden. Dem Erstickten hing die Zunge aus dem Hals. Das war im vergangenen November. Theys war der Vorsitzende des „Papua-Präsidiums", des obersten Rats der Unabhängigkeitsbewegung. Eine Figur so phantastisch wie das Drehbuch seiner Ermordung.

Theys, 64, liebte Jacketts in schreienden Farben, Cognac und dunkle Geschäfte. Der Kommandant der berüchtigten indonesischen Eliteeinheit „Kopassus" holte ihn ab zu einer Feier in seinem Hauptquartier, er schenkte dem Eitlen ein weißes Hemd, wie ein Todeskuss. Als Theys die Feier verließ, wurde sein Wagen gerammt, sein Fahrer schrie noch ins Mobiltelefon „Lange lebe unser Herrgott von Papua!", dann brach die Verbindung ab. Die Entführer nahmen die kurvige Straße in rasender Fahrt, ungehindert passierten sie 13 Militär- und Polizeiposten auf 29 Kilometer - bis zum Matoa-Baum.

Ein ungeklärter Mord, auf indonesische Art.

Das Haus von Theys steht im Städtchen Sentani. Die Jungs von Sentani spielen keinen Fußball mehr, denn mitten auf ihrer Fußballwiese ist nun Papuas berühmtestes Grab. Übersät mit Plastikblumen und letzten Grüssen aller einflussreichen Klans, drumherum ein Holzzaun und bunte Glühbirnen. Das ist der Beginn eines Heldenfriedhofs; das Papua-Präsidium hat schon 130 Namen ausgewählt, gefallene Kämpfer, ermordete Intellektuelle. Sie werden Märtyrer genannt, so schreibt es auch die örtliche Zeitung.  Papuas Kontraste: Hier ein Heldenfriedhof, wie im Vorgriff auf künftige Staatsehrung, und im Hochland das ängstliche Flüstern über die Toten unter Kartoffelfeldern.

Papuas Kampf hat bisher keinen charismatischen Rebellenführer hervorgebracht, keinen Visionär, keinen Medienliebling, niemanden wie etwa Xanana Gusmao in Osttimor, der aus dem Gefängnis kam mit der Autorität  des künftigen Staatspräsidenten. Auch Theys Eluay ist im Tod nun eindeutiger als im Leben. Er war ein schillernder autokratischer Stammesfürst, seine Geschichte reicht zurück ins Zwielicht des Jahres 1969: Indonesien inszenierte damals einen sogenannten „Akt freier Wahl", ein verspäteter Ersatz für die Volksabstimmung, die den Papuas beim Abzug der Holländer versprochen worden war. Theys war einer von 1025 handverlesenen Wahlmännern; teils bestochen, teils bedroht plädierten sie einstimmig für die Zugehörigkeit zu Indonesien. Eine Farce; die Vereinten Nationen stempelten darauf das Siegel internationaler Anerkennung.

Mord, Betrug, Verrat. Ein papuanisches Requiem.

Indonesien und die Vereinten Nationen müssten den „Akt freier Wahl" für unfrei, für nichtig erklären. Er ist für Papua ein Schandfleck, wie einst Holländisch-Neuguinea ein Schandfleck für das junge Indonesien war, nur schmerzlicher, beschämender. Eine Bereinigung der Geschichte verlangen in Papuas Oberschicht sogar die Unabhängigkeits-Gegner - weil auf dem Betrug von gestern das Misstrauen von heute wächst, und auf dem Misstrauen der unbändige Wille zur Trennung. -

An Papuas Südküste schleppt sich der Aikwa-Fluss steingrau in die flache Arafura-See. Die Mündung ist verlandet zu einer  aschfarbenen Ebene, kilometerbreit. Hier fließt ein Berg ins Meer, zermahlen von Menschenhand, jeden Tag 120 000 Tonnen Steinmehl, das ist der Abfall der reichsten Goldmine der Welt und der drittreichsten Kupfermine: Freeport Indonesia, zu 81 Prozent im Besitz der amerikanischen Freeport-McMoRan Copper & Gold Inc.

Die graue Ebene ist gesäumt von toten Bäumen.

So grandios wie zerstörerisch hat sich in diesem entlegenen Winkel der Erde westlicher Machbarkeitswille verewigt. Gold und Kupfer abbauen auf unzugänglichen 4000 Metern Höhe, es hinunterschaffen durch weglosen Dschungel und malariaverseuchte Sümpfe zu einer See, die zu seicht ist für große Schiffe -  da triumphierten kühne Ingenieure über eine abweisende Natur. Es war eine „Eroberung", rühmte Freeports früherer Chef-Geologe. Und es blieb die denkbar härteste Kollision zweier Kulturen.

Das erste Rad im Leben des Amungme-Völkchens hing an einem Hubschrauber, der vor ihren Grashütten landete. Die ersten Eindringlinge hörten noch das freundliche Schnalzen der Fingerknöchel. Später spießten die Amungme Tabu-Stöcke um das Zeltlager der Geologen, ein höflicher Hinweis, ihren Berg in Ruhe zu lassen.

Als Indonesiens Diktator Suharto die Mine 1973 offiziell eröffnete, war der Krieg der Kulturen längst ausgebrochen, Steinäxte hackten wütend auf Stahlrohre. Suharto taufte die Provinz an diesem Tag Irian Jaya, „siegreiches Irian". In der Verhöhnung der Wilden waren sich Indonesiens Präsidenten ähnlich.

 Es war Suhartos Sieg und der einer Firma, die perfekte Ehe zwischen Diktatur und Profit. Freeport kam als erster ausländischer Investor nach dem blutgetränkten Machtantritt des Generals, Freeport blieb Jakartas wichtigster Steuerzahler, Jakartas Soldaten schützen bis heute das Firmenareal. Als Suharto stürzte, stürzten die Freeport-Aktien.

Wo das sumpfige Tiefland endet, schraubt sich die Schotterstraße steil nach oben. „Mile Fifty", ruft der Fahrer; hier ist Amerika, hier sind die Wegmarken nach Meilen benannt, die Freeport-Jeeps fahren ohne Nummernschild, alles Firmengelände bis hinauf ins Gebirge. Der Motor kocht, hinten eine Staubwolke, vorne tiefhängende Regenwolken. Am höchsten Pass geben sie den Blick frei auf die Carstensz-Gletscher in der Ferne. Der holländische Kapitän Jan Carstensz sah sie zuerst, als er vor der Südküste kreuzte, 1623: wie eine weißglitzernde Fatamorgana auf 4800 Metern Höhe. Ewiges Eis in den Tropen, das schien so verrückt wie später den Amungme die Vorstellung, jemand könne ganze Berge stehlen.

Das Eis machte gierig, lockte erst die Wissensgierigen, die Expeditionen; an ihrem Weg stand ein Kupfererzmonolith, eine in den Himmel ragende Mine. Sie würde low cost production genannt werden, als der Vietnam-Krieg den Kupferpreis anfeuerte. Nun schmelzen die Gletscher dahin in der globalen Erwärmung, kein Jan Carstensz könnte sie von der Südküste mehr sehen.

Ein stählernes Tor. Dahinter Wohnblocks und Baracken, Moschee, Kirche, Supermarkt, eine komplette Stadt für 13000 Menschen, isoliert in der kühlen Einsamkeit der Berge. Tembagapura, Freeports „Kupferstadt" für die Minenarbeiter.

 Zwei Jahrzehnte lang war Tembagapura weiß; weiß nennen Papuas die hellerhäutigen Indonesier. Freeport gab tausenden Zuwanderern aus Java und Sulawesi Arbeit, dazwischen irrten ein paar Einheimische umher in der trostlosen Gestalt von Aboriginees, entfremdet dem alten Leben, chancenlos im neuen. Am ergrauten Fluss wuchsen Müllsammler-Kolonien, der Abfall der Moderne lockte andere Stämme von weither an, Verteilungskämpfe brachen aus. Und dann passierte die Sache mit dem Kind.

Ein Polizist in Tembagapura schlug ein Kind aus dem nahen Amungme-Dorf Banti, da kam das ganze Dorf, stürmte Freeports Büros, zerschlug die Einrichtung. Das war 1996. Heute ist jeder vierte der 8700 Freeport-Arbeiter ein Papua, 90 von ihnen sind aus Banti - Früchte der Revolte. Es sind nur vier Kilometer von der Minenstadt bis ins Dorf. Banti war quasi das Auge der Steinzeit, vor dem die Neuzeit aus dem Boden sprang, bedrohlich und verlockend. Nun steht hier ein Krankenhaus, eine Kette solider Holzbungalows, alles Geschenke von Freeport.

Unten im Tiefland hat Freeport erfolgreich die Malaria bekämpft. 100 000 Menschen leben nun in dieser vorher dünnbesiedelten Region, das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist höher als überall sonst in Papua. Und doch können sich die Papuas mit der Mine nicht versöhnen.  Freeport mag ein Wörterbuch der Amungme-Sprache sponsern - die jahrelange Verachtung wird nicht vergessen. Der Anblick eines neuen Krankenhauses vertreibt aus der Erinnerung nicht die Bilder, wie Jakartas Soldaten aus Freeports Hubschraubern auf die Papuas schossen. Und nach allen Wohlfahrts-Projekten bleibt immer noch eine offene Rechnung: Die Berge geben jährlich Gold und Kupfer im Wert von 1,5 Milliarden Dollar her. Freeport brauchte den Einheimischen dafür so gut wie keine Entschädigung zu zahlen. Bis zum Ende der Suharto-Zeit 1998 gehörte alles unbebaute Land allein dem Staat, alle Wälder, alle Berge waren Suharto-Land.

Eine magere Frau sitzt auf dem Boden ihres winzigen Schlafzimmers und deklamiert, als hätte sie eine Menschenmenge vor sich. „Ihr Amerikaner", ruft sie und gestikuliert Richtung Kleiderschrank, „was habt Ihr bezahlt? Ein paar Metalläxte, fünf Dosen Corned Beef! Ihr habt uns betrogen! Ihr gebt uns Fried Chicken, um uns blind zu machen! Uns gehören die Berge bis zum Schnee hinauf!" Sie hält kurz inne, knirscht mit den Zähnen. „Ihr Indonesier, Ihr habt euch auf diese Insel gesetzt und behauptet, das sei Indonesien! Ihr werdet für Eure Sünden bezahlen!"

Das ist Mama Yosepha. Yosepha Alomang, 49 Jahre alt, die Mama des Widerstands gegen Freeport, die Mutter aller Schlachten des Amungme-Volks. Sie war unter den ersten Saboteuren, zerhackte die Leitungen, die das Kupferkonzentrat zur Küste transportieren. Später wurde sie gefoltert, von Soldaten in einem Freeport-Container, weil sie Unabhängigkeitskämpfern zu essen gegeben haben soll. Und nachdem sie eine Woche lang in einem Klo eingesperrt war, wo knöchelhoch kotige Brühe stand, wurde sie diese zähe kleine Kampfmaschine.

Mama Josepha hat nie eine Schule besucht. Vor 20 Jahren warf sie ihren Mann aus dem Haus, „er trank zuviel indonesisches Bier". Heute sieht sie, wie die Jungen trinken, und nur dann weint sie.

Hinter ihrem Haus tanzen an diesem Abend hunderte Frauen, Frauen aus sieben Stämmen, sie singen in sieben Sprachen, mit blanken Brüsten, wippendem Federnschmuck und kriegerisch wirkender Gesichtsbemalung. Eine politische Kundgebung mit den Requisiten der Vergangenheit. Die Frauen haben ihre T-Shirts und Büstenhalter ausgezogen, um für die Respektierung ihrer Menschenrechte zu demonstrieren. Längst haben diese Tänzerinnen ihre Stammesgebiete verlassen, es sind Dani und Lani aus dem Hochland, Asmat von der südlicheren Küste, sie sind wie tausende andere dem Sog der Mine gefolgt. Nun leben sie in einer Region, die Freeport als Modell ökonomischer Entwicklung rühmt, als Papuas Brücke in die Moderne - und die Frauen halten nachgemachte Steinäxte hoch für eine bessere Zukunft. 

Unter den Tanzenden irrt eine Geistesgestörte umher, sie hat sich geschmückt mit einer Schweißerbrille, Ohrenschützern und einem abgeschnittenen Telefonhörer. In die tote Muschel ruft sie, immer wieder: „Hallo, hallo, Vereinte Nationen? Lebt ihr noch?" -

Papua ist groß und dünn besiedelt - und war doch nie eine herrenlose Wildnis. Papuas Stämme betrachteten ein Territorium als ihren Besitz, wenn sie es von Alters her sammelnd, jagend oder fischend durchstreiften. Erst seit 1998 respektiert Indonesien die traditionellen Nutzungsrechte lokaler Völkerschaften. Vorher konnte Jakarta Land einfach requirieren - daraus entstanden in vielen Regionen des Inselreichs soziale und ethnische Konflikte, die bis heute anhalten.

In Papua verbindet sich die Wut über Landnahme mit Angst: Angst vor Überfremdung, Verdrängung, gar Ausrottung. Das mag angesichts der Größe des Territoriums absurd erscheinen: In Papua leben heute 2,1 Millionen Menschen,  weniger als ein Prozent der Bevölkerung Indonesiens auf fast einem Viertel seiner Landfläche. Aber die Angst vor Überfremdung rechnet nicht nach Quadratmetern, sie rechnet Auge um Auge, und auf jeden Papua kommt jetzt ein Pendatang, ein Ankömmling, so heißen die zugewanderten Indonesier.

Die dünne Besiedlung machte Papua zu einem bevorzugten Ziel des Transmigrasi-Programms: Transmigration, das ist die staatlich organisierte Umsiedlung vor allem javanischer Bauern in andere Landesteile. So bekämpft Indonesien sein drückendstes Strukturproblem: Von den 220 Millionen Indonesiern leben zu viele auf zu kleinem Raum. Mehr als 60 Prozent drängen sich auf nur sieben Prozent der Landfläche, auf den Inseln Java und Madura.

 In Papuas weitem Grün funkeln vielerorts Blechdächer in Reih und Glied -  eine Transmigrasi-Siedlung ist gleich am militärischen Zuschnitt zu erkennen. Siedlung 5, Reihe 4, Haus 178: Der Bauer Kaharudin und seine Frau Nurmasih kamen vor zehn Jahren in einem Transportflugzeug der Armee, mit einem Bündel Kleidern und ein paar Töpfen, eine Familie im großen Treck. Die Regierung schenkte ihnen das Häuschen und ein Stück von Papuas Erde, dazu Reis für ein Jahr, Speiseöl, Petroleum, Werkzeug. So wurden mehr als 350 000 indonesische Siedler in der Provinz beschenkt, für die Papuas sind sie privilegierte Eindringlinge.

Erstickend heiß ist es unter dem Blechdach, überall liegen Erdnussschalen, die ganze Familie puhlt Erdnüsse zum Verkauf. Zerschlissene Bastmatten, an Nägeln hängen ein paar Kleidungsstücke, ein Baby kaut an einer Streichholzschachtel. Das ist übrig von der Hoffnung auf ein besseres Leben.. Der Boden erwies sich als wenig geeignet für Landwirtschaft, schon gar nicht für den Reisanbau, den Jakarta empfahl.

Notdürftig schlägt sich Kaharudin durch mit seinen Erdnüssen, mit Bohnen und Chili. Am Haus führt eine Stromleitung entlang, er benutzt sie nicht. Eine Glühbirne würde 5000 Rupiah Strom kosten im Monat, ein halber Euro. Er kann sich das nicht leisten.

Das Scheitern eines Staatsprogramms kann sich an den Kosten einer Glühbirne bemessen.

Die indonesische Regierung hat den Transmigrasi-Treck mittlerweile angehalten, das Programm ausgesetzt - aber viele Papuas glauben das einfach nicht. Zu sehr beherrscht sie die Angst, zur Minderheit zu werden, zu Aboriginees, leicht überstimmbar beim nächsten „Akt freier Wahl".  Ungezählte Indonesier kamen und kommen ohnehin auf eigene Faust, Händler und Kaufleute, hart und durchsetzungsfähig, oft gebildeter, oft gerissener als die Papuas. Im Archipel verkehren riesige weiße Passagierschiffe, sie fassen Tausende, die „weißen Schiffe" sind zum Synonym von Papuas Albtraum geworden: Weiß ist die Bedrohung, weiß und muslimisch. Alles vermischt sich, Ethnisches, Soziales, Fakten, Phobien. Mit den weißen Schiffen kommen auch Prostituierte, sie bringen Aids, Jakarta habe sie geschickt, Gesandte des Genozids. Wahnvorstellungen. Zu viel ist passiert in Papua, zu oft glich die Wirklichkeit einem Albtraum. -

141 Grad östlicher Länge, da fällt von Nord nach Süd eine Staatsgrenze über die Landkarte, 740 Kilometer lang, wie mit dem Lineal gezogen. Nur am Fliegenfluss kräuselt sie sich, folgt einen Moment dem Wasserlauf, als hätten Briten und Holländer mit dem hurtigen Bögelchen beweisen wollen, dass sie irgendetwas wussten über Neuguineas Wildnis, als sie ihre kolonialen Claims absteckten vor 150 Jahren.

Flug entlang der Grenze. Aus der Luft ist nicht zu sehen, wo Indonesien endet und wo Papua New Guinea beginnt - der Nachbarstaat, einst britische Kolonie, seit 1975 unabhängig. Soweit das Auge reicht derselbe Dschungel, dieselbe Gebirgskette. Eine widernatürliche Linie zerteilt Stämme und Sprachen.

Diesseits der Grenze taucht im Flachland ein Stück Straße auf, ein Landeplatz, ein paar alte Wachtürme: Tanah Merah, „Rote Erde". Jedes indonesische Schulkind lernt diesen Namen, er klingt nach Leid und Heldentum. „Rote Erde" war ein Gefangenenlager; in diesen fernsten Winkel des Kolonialreichs verschleppten die Holländer ihre intelligentesten Feinde, die Anführer der jungen Nationalbewegung. 1927 begann eine Rebellion in Westjava, sie verbreitete sich mit dem Fanal Indonesia! Das war neues Wort, die Idee einer Nation, alle Ethnien vereinend. In „Rote Erde" sollten die Visionäre verrotten zwischen Schlangen, Moskitos und Krokodilen.

Das Flugzeug landet in Merauke, Indonesiens östlichster Stadt. Merauke macht sich schön, an allen Häusern wird gepinselt, die Stadt feiert ihren 100. Geburtstag mit einem merkwürdig beschwichtigenden Motto: „Ein Herz, ein Ziel". Es leben 46 Ethnien in Merauke. Muyu, Auyu, Mapi, Mandobo..., 30 heimische Papua-Stämme, aber das sind nur die Obergruppen. Dann sechs Translokasi-Ethnien, das sind zugezogene Papuas aus anderen Regionen. Und schließlich die Ankömmlinge und die Transmigrasi, die sind nicht einfach Indonesier, sondern ihrerseits zehn Ethnien.

Vielleicht muss man bis zur Ostgrenze dieses extremen Landes reisen, um Indonesien zu verstehen, um den Mechanismus seines multiethnisches Getriebes zu begreifen. Ein Kaleidoskop der Völkerschaften und der Gesichter - aber jeder hat eine Zuordnung,  nimmt seine Herkunft stets mit und fragt den Fremden als erstes: Dari mana? Woher kommst Du? Javaner bleiben in Sumatra noch nach Generationen Javaner; ein kraushaariger Ambonese in Papua sieht nur für unsere Augen aus wie ein Papua, und wenn Ankömmlinge untereinander gemischt heiraten, gilt als Erfolgsformel, javanische Disziplin zu kombinieren mit dem Draufgängertum der Bugis aus Sulawesi. Vielleicht ist die Fähigkeit zur ständigen Zuordnung und Abgrenzung Indonesiens Überlebensprinzip, vielleicht wird es so untergehen - das Großartige und das Erschreckende liegen in diesem Land dicht beieinander.

In Meraukes Oberschule Nr. 1 hängt in jeder Klasse eine kleine Schiefertafel; Kreideschrift sortiert die Kinder nach Religion. Dritte Klasse: 22 Muslime, 9 Katholiken, 18 Protestanten. So ist es üblich in ganz Indonesien, alle Religionen sind gleichberechtigt, und jeder muss eine haben. Aber auf dieser Tafel in Papua gibt es noch eine weitere Sorte Kind: putra daerah, die Kinder der Region. Es sind nur 11 Papuas unter den 49 Schülern, an Meraukes bester Schule sind die Einheimischen eine kleine Minderheit. Sie können nicht konkurrieren, nur jedes vierte Papua-Kind beendet die Grundschule. Und mancher Papua-Lehrer unterliegt Jahr um Jahr beim staatlichen Einstellungstest einem gerade zugereisten Bewerber. Ein paar Straßen weiter eine katholische Schule, hier sind die Papuas unter sich, die Schule hat kaum Lernmaterialien, nicht einmal Strom. Ein Lehrer beschwerte sich bei der Regierung, indem er die Unabhängigkeitsfahne hisste.

Aus dem Wohnzimmer eines wohlhabenden Javaners fällt der Blick auf eine Moschee. Die Reisfelder glitzern, hier ist gute Erde, hier ist ein Transmigrasi-Projekt gelungen, wenigstens wirtschaftlich. Java, wie gerahmt, mitten in Neuguinea: Frauen mit spitzen Hüten,  Wasserbüffel. Ländliches Asien. Nur eine halbe Stunde entfernt, auf der anderen Seite von Merauke, ist Südsee pur. Endlos der flache Strand bei Ebbe, schwarze Kinder turnen jubelnd über buntbemalte Ausleger-Kanus, Trommelklänge hängen im Abendwind. Der Kontrast macht atemlos. Können Menschen das leben?

Erinnerung an ein Gespräch, ein paar Tage zuvor, mit Thaha Alhamid, dem Generalsekretär des Papua-Präsidiums. Ein Muslim, ein sogenannter schwarzer Muslim, an der Spitze der sonst so christlich gestimmten Unabhängigkeitsbewegung. „Jeder, der hier geboren ist, kann bleiben und Bürger Papuas sein", sagte er. „Papua wird ein demokratischer Nationalstaat sein, nicht religiös oder ethnisch definiert." Eine moderne Nation der vielen Ethnien - hat so nicht auch Indonesien begonnen? „Ja", sagte Thaha und lächelte.

Fahrt zur Grenze, durch den Wasur-Nationalpark. Sumpf geht über in Buschlandschaft und Savanne. In grüner Einöde steht ein letztes Denkmal: Von der Nordspitze Acehs bis hierhin Indonesia Raya, großes Indonesien, ein Inselreich, eine Nation, mit Gottes Segen. Auf dem Grasweg zum Grenzstein gibt ein einsamer junger Soldat Geleitschutz, mit seiner Maschinenpistole und seiner Melancholie. Ramli stammt von der Insel Ambon, er ist zur Erholung hier, er hat zu viele Tote gesehen in Ambon, wo sich Christen und Muslime umbringen, mit Gottes Segen. Nun steht er zwischen den Grashalmen an dieser Grenze, in den Augen Müdigkeit, und auf seinem Barett die Inschrift: Vorwärts, nie zurück.

Ramli, kann Indonesien zusammenhalten? Harus, sagt er leise. „Es muss."