Nur nicht zurückblicken

Erkundungen im 25. Jahr nach dem Ende des Amerikanischen Krieges

Beim Landeanflug hatte ihn plötzlich nackte Angst befallen. Oh Gott, was für ein Fehler, in dieses Land zurückkehren! „Mein Bild von Vietnam", sagt der US-Veteran Chuck Searcy, „war eingefroren in der Vergangenheit. Das brennende Saigon, die Flüchtlinge, die Leichen." Würden die Vietnamesen ihn beschimpfen, bespucken?

Die Vietnamesen lächelten, sie empfingen den Amerikaner mit einer Freundlichkeit, die ihn überwältigte. Chuck Searcys lange Gestalt ist immer ein wenig von Melancholie umweht; über die Freundlichkeit der Vietnamesen spricht er mit der Verlegenheit eines Menschen, der ein ganz unverdientes Geschenk bekommen hat.

Searcy leitet heute in Hanoi die „Vietnam Veterans of America Foundation"; die Stiftung hilft behinderten vietnamesischen Kindern mit Prothesen und künstlichen Gelenken. Ein winziges Stück Wiedergutmachung - ein Wort, das nur in der privaten Rede von Amerikanern existiert. „Was von unserer Regierung kommt, ist beschämend wenig", sagt Searcy. Das Wenige muss sich noch tarnen, US-Hilfe erreicht Vietnam nur über Nichtregierungs-Organisationen. 25 Jahre ist der Krieg nun her, und das offizielle Amerika ballt noch immer die Faust in der Tasche.

Duane Ebnet muss ein harter Bursche gewesen sein, damals; er meldete sich freiwillig nach Vietnam, bei den  Marines. Jetzt ist er 54, als Geschäftsmann in Hanoi, und manchmal sagt er zu seinen lokalen Business-Partnern salopp: „Gut, dass wir uns damals nicht getroffen haben." Ebnet erzählt freimütig von seiner Vergangenheit, und er hat deswegen noch nie eine Spur Feindseligkeit erlebt. Bei Veteranen von der anderen Seite spürt er mitunter sogar „eine Art Kameraderie".

Drei Millionen Tote, vier Millionen Verwundete, ein verwüstetes Land - das war für Vietnam die Bilanz eines Kriegs, der hier „der Amerikanische Krieg" heißt. Und dann Freundlichkeit statt Hass?

Wer daran gewöhnt ist, in Europa ständig durch mentale Erinnerungslandschaften zu wandern, begegnet in Vietnam einem gegenteiligen Phänomen: Dem festen Willen, nicht zurückzublicken. Die Vietnamesen sind demographisch ein junges Volk; von seinen 79 Millionen wurde fast die Hälfte nach Kriegsende geboren, 40 Prozent sind heute nicht älter als 15 Jahre. In Europa und Amerika mag Vietnam immer noch ein Synonym sein für Krieg, doch vielen jungen Vietnamesen scheint er heute nur noch eine ferne Legende. Ihre Eltern lehrten sie weder erinnern noch hassen - obwohl nahezu jede vietnamesische Familie einen stillen Schmerz hütet um verlorene Väter, Söhne, Töchter.

Im einstigen Südvietnam ist die Abwendung von der Vergangenheit besonders schroff. Dort kämpfte manchmal der Sohn gegen den Vater, ein Bruder gegen den anderen. Wenn man fragt, wie in solchen Familien Versöhnung entstanden sei, lautet die erstaunliche Antwort: Es sei über das Vergangene nicht viel gesprochen worden.

Nhat Anh ist ein beliebter Jugendbauchautor, 65 Bücher hat er schon geschrieben, jeder Teenager kennt seinen Namen. Aber dunkel waren die Jahre, bevor er die erste Zeile veröffentlichen konnte. Sein Vater war in der Saigoner Verwaltung Spezialist für Verräter aus den Reihen des Vietcong; die Verbrechen, die ihm 1975 angelastet wurden, lagen auf dem 20jährigen Sohn wie ein Fluch. Anh fand keine Arbeit, schlug sich als Rischkafahrer durch, meldete sich schließlich verzweifelt zur Fron in einer Brigade, die Schlachtfelder wieder urbar machte. Erst dann war sein Name reingewaschen. Heute plädiert Anh dezidiert: „Wir müssen vergessen." Es sei falsch, Schulklassen ins Kriegsmuseum zu schicken. „Wir müssen zum Frieden erziehen. Warum sollten wir Jugendliche mit Informationen über den Krieg belasten?" Zum Abschied sagt Anh heiter: „Wir Vietnamesen führen Krieg um jeden Preis, wenn wir gezwungen sind, aber wir führen auch Frieden um jeden Preis."

Mit dem 70jährigen Herrn Lam über seine zehn elenden Jahre im Umerziehungslager zu reden, ist schlechterdings unmöglich: Er will nur über sein schönes neues Hotel reden. Ach, das Lager, sagt er beiläufig, natürlich war das ein tiefer Sturz aus dem privilegierten Leben eines Oberstleutnants der Saigoner Armee. Aber nun besichtigen Sie bitte mein Hotel! Nach zehn Jahren Lagerhaft wartete er sechs Jahre, bis Amerika ihn als Verfolgten einreisen ließ - und kam dann nach einem Monat schnurstracks zurück, fing völlig neu an, baute sich sein Hotel mit geliehenem Geld. Die Kopfkissen sind aus Amerika, das Dekor ist amerikanisch, sogar auf der Kloschüssel steht: American Standard. Qualität!, sagt Herr Lam stolz.

Die Direktorin einer Saigoner Mittelschule hatte einen Abend offenherzig geplaudert, aber dann bittet sie doch, nicht ihren vollen Namen zu schreiben. Der Krieg ist immer noch ein sensibles Thema für eine Schulleiterin, die einer Südfamilie entstammt. 1975, sagt Frau Do, „hatte jede Seite ihre eigene Philosophie über den Krieg. Für uns war Amerika nicht der Feind gewesen, wir hatten den Vietcong gehasst." Sie wohnte in der Nähe des größten Militärlazaretts Südvietnams. „Jeden Tag Tod und Blut, es war so schrecklich. Wir müssen heute vergessen, weil die Erinnerung so furchtbar ist."

Besuch in Cu Chi: Die unterirdischen Tunnel des Vietcong, westlich von Saigon, sind eine Attraktion für ausländische Touristen geworden; sie dürfen sich durch einige Röhren zwängen, die diskret für westlichen Leibesumfang erweitert wurden. Ein vietnamesischer Reiseleiter erläutert mit dramatischen Gesten die getarnten Menschenfallen des Vietcong und rühmt die Wirkung giftgetränkter Bambusspitzen; dem Mann ist nicht anzumerken, dass er bis zur letzten Minute des Kriegs auf der Gegenseite kämpfte, in der Südarmee. „Wir haben eben verloren", erklärt er lakonisch. „Im Dschungel kann nur ein Tiger der König sein."

25 Jahre Kriegsende bedeuten 25 Jahre Vereinigung von Nord und Süd. Den Ehrentitel „Veteranen" tragen indes nur die ehemaligen Soldaten des Nordens sowie die Kämpfer des Vietcong. Die Süd-Soldaten sind, soweit nicht in die USA emigriert, namenlose Zivilisten. „Sie würden doch in Deutschland jemanden, der für Hitler gekämpft hat, auch nicht in eine Organisation von Widerstandskämpfern aufnehmen", sagt ein Nord-Funktionär. Die Aussöhnung mit dem mächtigen äußeren Feind fiel leichter als die Aussöhnung mit dem verfeindeten Bruder - „Brüder" nennt eine offiziöse vietnamesische Zeitung nun die US-Veteranen. Das „Museum der Kriegsverbrechen" in Saigon heißt jetzt „Museum der Spuren des Kriegs." -                                                                                                                                              

Große getigerte Schmetterlinge schweben über dem Steinpfad, an dessen Ende ein Mahnmal steht. My Lai. Für einen Moment erinnert die Figurengruppe an Monumente in polnischen KZ-Gedenkstätten: Eine Mutter mit zum Himmel gereckter Faust, im anderen Arm schlaff das tote Kind. Trauer, heroisiert. Manche Kinder starben mit dem Frühstücksreis im Mund, an jenem Märzmorgen 1968, als eine amerikanische Einheit über das Dörfchen in Zentralvietnam herfiel. Von den 504 Opfern waren 76 Säuglinge. Für einen Ort, der sich ins Weltgedächtnis eingegraben hat, ist die Gedenkstätte sehr bescheiden. „Dies ist die Wunde beider Länder; wir wollen sie nicht reizen", sagt ein örtlicher Lehrer.                                                                

Über dem Eingang zur Ausstellung steht in vietnamesisch eine Parole, die zum neuen Kurs der Regierung in Hanoi nicht mehr passt: „Ewiger Hass den amerikanischen Invasoren!" Der Leiter der Gedenkstätte schreibt sich meine Fragen umständlich auf, um vor der Antwort Zeit zu gewinnen. Pham Thang Cong war 11, als seine ganze Familie umgebracht wurde. Hasst er die Amerikaner? „Ich stimme mit der vietnamesischen Politik überein, eine neue Phase der Beziehungen zu beginnen. Das Ziel, unser Land zu entwickeln, ist größer als meine persönlichen Gefühle." Dann erzählt er, wie furchtbar es gewesen sei, als kleiner Junge in einem Krieg ganz allein dazustehen, ohne Liebe, ohne Angehörige. „Von vielen Familien ist niemand übrig, die Räucherstäbchen anzuzünden", sagt er bitter. Nach vietnamesischem Glauben bringt erst die Verehrung der Ahnen den Toten ihre Ruhe.

Wiederaufgebaut wurde die Normalität eines ärmlichen Dorflebens. Gerade hat eine Erweiterung der überlasteten Schule begonnen; das Geld dafür haben US-Veteranen privat gesammelt. Eine Amerikanerin stiftete schon 1985 ein notdürftiges Krankenhaus. Ein Friedenspark entsteht, gleichfalls aus Spenden. Nur von der amerikanischen Regierung nichts. Als der US-Botschafter einmal nach My Lai eingeladen wurde, soll er gesagt haben: Amerika ist noch nicht soweit.

Eintrag im Gästebuch, von einem jungen Amerikaner: „Was sie taten, war nicht amerikanisch, jedenfalls nicht, wofür Amerika steht. Es tut mir so leid." -

Zwischen 1961 und 1971 fielen auf Südvietnam 44 Millionen Liter des Entlaubungsmittels „Agent Orange". Das Herbizid, benannt nach der orangefarbenen Markierung auf den Fässern, verseuchte drei Millionen Hektar Land, ein Drittel davon so nachhaltig, dass dort heute kein Baum, kein Strauch wächst, nur das sogenannte „amerikanische Gras": Mit seltsam dicken Halmen.

Die vietnamesische Regierung schätzt die Zahl von Agent-Orange-Opfern auf 800 000; davon seien rund 100 000 als missgebildete Kinder geboren worden: mit fehlenden oder verstümmelten Gliedmaßen, übergroßen Köpfen, geistigen  Behinderungen. Einst gingen anklagende Fotos von Kleinkindern um die Welt; mittlerweile sind daraus junge Erwachsene geworden, die sich auf den Stümpfchen ihre Beine an dörfliche Haustüren lehnen. Viele blieben geistig ein Kind.                                                                                  

Ein Panorama des Unglücks ohne wissenschaftlichen Beweis seiner Ursache. Die Folgen von Agent Orange umfassend zu untersuchen, fehlt es Vietnam an Geld und an Wissenschaftlern. Einer der wenigen Experten ist Professor Le Cao Dai; nüchtern referiert der einstige Militärchirurg, was die Analyse von Gewebeproben in ausländischen Speziallabors ergab: In den besprühten Zonen Südvietnams ist die menschliche Dioxinbelastung heute zehnmal höher als im Norden,  mancherorts sogar 50 mal höher. Alles andere ist, wissenschaftlich gesprochen, nur Evidenz: Wenn man in einer Familie den Kindern ansehen kann, ob sie vor oder nach den amerikanischen Flugzeugen geboren wurden.

Die Regierung in Hanoi zahlt an Veteranen des Nordens eine winzige monatliche Entschädigung für Leiden, die dem Gift zugeschrieben werden. Für zivile Opfer gibt es nur einen knappen Spendenfond des vietnamesischen Roten Kreuzes und die tröpfelnde Hilfe internationaler Organisationen. Viele Eltern, die ihre behinderten Nachkommen seit Jahren jeden Tag mit zur Arbeit aufs Reisfeld schleppen, haben noch nie Hilfe gesehen. Kürzlich besuchte eine amerikanische Journalistin Opfer-Familien: Die Leute waren überglücklich, sie hielten die Besucherin für eine Abgesandte der US-Regierung.

In Amerika bewirkte der Druck von Veteranen-Verbänden, dass zehn Krankheiten, darunter Krebsarten und Geburtsdefekte, anerkannt sind als „offenkundig" von Agent Orange verursacht; die Betroffenen bekommen Entschädigung. Gegenüber den vietnamesischen Opfer zieht sich Washington auf den Standpunkt zurück, nichts sei bewiesen.

Besuch bei Douglas Peterson, der erste Nachkriegsbotschafter der USA in Hanoi. Eine Biographie wie für einen Hollywood-Film: Als Bomberpilot 61 Einsätze in Vietnam, abgeschossen beim 62., sechs Jahre Kriegsgefangenschaft, inklusive Folter, und nun berühmt als Protagonist der Versöhnung. Peterson mag Vietnam, er hat hier geheiratet, ein neues Leben begonnen, doch beim Stichwort Agent Orange wird er plötzlich kühl: „Wir können nichts entschädigen, von dem wir gar nicht wissen, was es ist." Und für Geburtsdefekte gebe es in Vietnam viele Gründe, „von Inzest bis zum verseuchten Wasser."                              

Wenn die Vietnamesen den Krieg verloren hätten, bekämen sie leichter Hilfe von Amerika - sagen Amerikaner hinter vorgehaltener Hand. Auch folgende Information trägt das Siegel der Diskretion: Eine US-Firma hat ein Enzym entwickelt, das Agent Orange im Boden innerhalb von sechs Monaten zerfallen lässt. Damit könnte endlich eine leidbringende Hinterlassenschaft beseitigt werden: In der Nähe von vier ehemaligen US-Luftwaffenbasen, wo Gift-Container gefüllt und ausgewaschen wurden, sind Boden und Gewässer immer noch hochgradig verseucht; Krebs und Geburtsdefekte treten in den umliegenden Dörfern besonders häufig auf, nun schon in der zweiten Generation. Aber die Entdeckung auf den Markt zu bringen, sei heikel, sagt ein Repräsentant der Firma, „weil Amerika die Schäden durch Agent Orange nicht anerkennt". Statt an die US-Regierung kann das Produkt nur an eine Hilfsorganisation verkauft werden.

Nicht nur Amerikaner, auch Vietnamesen in offizieller Funktion reden plötzlich wie auf Zehenspitzen beim Stichwort Agent Orange: Vorsicht, Politik! Die Regierung in Hanoi hat die Spätfolgen des Gifts lange eher vertuscht statt Forderungen an die USA zu stellen. Hanoi fürchtete um die Marktchancen vietnamesischer Exporte, besonders der Meeresfrüchte. Der Veteranen-Verband bedrängt die Regierung bisher vergeblich, vor einem internationalen Gericht gegen die USA zu klagen. „Die Ängste der Regierung sind dumm", kritisiert der Dioxin-Experte Professor Dai überraschend offen; „wir können die Vergiftungen nicht verstecken."

In vielen Gesprächen, die von der Tugend des Vergessens handeln, fällt auch dieser Satz: Wir bitten um nichts, aber wir warten auf eine humane Reaktion Amerikas.-

Die Vietnamesen konnten ihre Kriegstoten nur schätzen (drei Millionen), die Amerikaner konnten sie zählen: 57 939. Die ungleiche Buchhaltung setzt sich bis heute fort: Verschollene Vietnamesen geschätzt 300 000, verschollene US-Soldaten präzise 1519. Seit mehr als 25 Jahren graben die Amerikaner in einstigen Schlachtfelder nach ihren Toten; die erschöpfendste Suche jeglicher Kriegsgeschichte brachte 402 Särge heim, bedeckt mit dem Sternenbanner. Seit 1992 unterstützt Hanoi die Suchaktionen des Pentagon -  MIA, „missing in action", war das Codewort für Washington, die politische und wirtschaftliche Blockade gegen Vietnam zu lockern. 

Der Weg zur sogenannten Normalisierung führt durch das Reich der Toten. Aber was ist hier normal?  Als der  erste US-Verteidigungsminister seit dem Krieg Vietnam besuchte, stellte er sich für die Weltpresse in Gummischuhen auf ein Holzpodest in einem Reisfeld; ringsum buddelten vietnamesische Frauen im Matsch: In dem Feld  war einst ein US-Kampfflieger abgestürzt. Die Amerikaner sagen, sie suchten nun auch mit nach vietnamesischen bodies; das große Ungleichgewicht wird dadurch nur wenig gemildert.

Der Bruder von Frau Binh fiel im Hochland an der Grenze zu Kambodscha. Ein Kamerad beschrieb die Stelle: ein Weg, ein Fluss, eine Brücke. Zehn Jahre lang suchte die Familie dort vergeblich, dann wandte sie sich an Wahrsager. Vietnamesen glauben, dass die Seele weiterlebt nach dem Tod; nur spezielle Wahrsager verfügen über die Gabe, den Kontakt zwischen dem Verstorbenen und seinen Angehörigen zu vermitteln. Frau Binh fuhr tausend Kilometer durchs Land zu einem solchen Spezialisten - der Andrang war so groß, dass sie unverrichteter Dinge zurückfuhr. Ihr Vater stand schließlich tagelang mit Hunderten Schlange, „bis der Sohn ihn rief". Der Wahrsager malte einen Lageplan; „wir fanden dort auch etwas", sagt Frau Binh. „Etwas." Über eine andere Wahrsagerin teilte der Sohn der Mutter mit, er wolle nicht nach Hause, sondern bei den Kameraden bleiben; so wurde er auf einem Soldatenfriedhof nahebei begraben.

Die Seelen der Verstorbenen beschützen nach vietnamesischem Glauben die Nachkommen. Früher wurden Tote mitten im Reisfeld begraben, damit sie über die Ernte wachen. Eine Familie, die nicht weiß, wo ihre Toten sind, fürchtet Unglück für Generationen. -

Offiziell kennt Vietnam kein Pendant zum „Vietnam-Syndrom" amerikanischer Veteranen, denn der Krieg war siegreich, gerecht und heroisch. Aber manche alte Frontsoldaten waten in ihren Albträumen immer noch durch Tümpel von Blut oder sie kriechen zum Entsetzen ihrer Angehörigen nachts mit Kampfesschreien ums Dorf. Solche Leiden sind ein wohlgehütetes Tabu. Schmerz und psychische Qual bescheiden im Innersten zu verbergen, das ist ein vietnamesischer Charakterzug - und nur derart kann das Bild eines Landes entstehen, das leichtfüßig aus seinen Schatten hinaustritt.

1991 erschien der Roman „Die Trauer des Kriegs": Erstmals beschrieb ein vietnamesisches Buch den Krieg nicht aus der Sicht der Nation, sondern aus der Sicht des individuellen Soldaten, beschrieb Horror, Zweifel, seelische Ödnis. Ein poetisches, brutales Werk, gespeist aus den Kriegstraumata des Autors. Bao Ninh war ein 17jähriger Rekrut des Nordens in der „Glorreichen 27. Jugendbrigade" - von den 500 Jugendlichen überlebten zehn. Bao Ninh bekam den Preis des vietnamesischen Schriftstellerverbandes - obwohl die Militärs sein Buch scharf verurteilten. Bis heute ist es umstritten, darf von Lehrer nicht im Unterricht benutzt werden; es sei zu subjektiv.

Gespräch mit dem Doyen vietnamesischer Literatur: Nguyen Ngoc ist 68, ein feinnerviger Intellektueller und ein ungeduldiger Verfechter vietnamesischer Perestroika. Er setzte durch, dass „Die Trauer des Kriegs" gedruckt wurde. „Die Anerkennung des Individuums", sagt der Schriftsteller, „ist der Schlüssel zur Erneuerung Vietnams. Der Krieg hat uns eine gefährliche Psychologie hinterlassen, sie wirkt bis heute fort, sie prägt die Atmosphäre. Wie die Erfahrung des Kriegs verarbeitet wird, das ist eine fundamentale Frage für die Zukunft Vietnams."

Postscriptum:
Ein Team von amerikanischen, vietnamesischen und deutschen Wissenschaftlern veröffentlichte  2003 eine Studie zu den Spätfolgen von Agent Orange. Nahe einem ehemaligen US-Luftwaffenstützpunkt in Südvietnam waren die Dioxin-Werte durch die Nahrungskette bei manchen Erwachsenen so hoch, „als würde das Herbizid heute noch versprüht". Hohe Dioxin-Werte wurden auch in Enten, Hühnern und Fischen gefunden. Bei US-Veteranen sind als Folgeschäden von Agent Orange zahlreiche Krankheiten anerkannt, u.a. Lungen-, Prostata- und Blutkrebs. Geburtsfehler zeigen sich jetzt auch bei Enkeln von Veteranen. Das Oberste Gericht erlaubte 2003 neue Klagen von Veteranen gegen den Hersteller des Herbizids, weil manche Opfer erst heute  Symptome entwickeln.