Verschleierter Fortschritt

Wie passen Demokratie und Patriarchat zusammen?
Beobachtungen im Jemen

 

Verschleiert bis zum Unterlid steht die Anwältin Nabila Al-Mofti im Gerichtssaal. Eine schwarze Erscheinung mit Augenschlitz, so hält die Verteidigerin ihr Plädoyer. Jedes Wort muß durch zwei Lagen Stoff hindurch, getrieben von einem starken Willen und von präzisem Atem.

Nicht aus Scham verbirgt die Rechtsanwältin ihr Gesicht, und nicht der Religion wegen. Die Verhüllung ist ihr Tribut an die Tradition, eine Rüstung aus zarter Kunstfaser. Derart gerüstet kann eine Frau ihre Stimme erheben.

Der Fortschritt verschleiert sich manchmal, zeigt sich nicht dem schnellen Blick. So ist es im Jemen, am südwestlichen Rand der arabischen Halbinsel. Der schnelle Blick streift nur eine rustikale Fassade. Die Straßen von Sanaa, Jemens Hauptstadt im gebirgigen Norden, werden beherrscht von malerischen Männergestalten: Der Krummdolch im bestickten Gürtel, um den Kopf ein verwegen geschlungenes Tuch. Und meistens eine Backe kugeldick gestopft mit zerkauten Qat-Blättern, einer milden Droge.

Hinter dieser alt-arabischen Fassade keimt zaghaft eine Demokratie, Produkt jüngster Zeitgeschichte. Bis vor 15 Jahren war der Jemen zweigeteilt. Hier im konservativen Norden regierten über Jahrhunderte muslimische Religionsführer, die Bergwelt blieb lange unberührt von der Moderne. Ganz anders der Süden: Dort war Aden britische Kolonie, später wurde der Südjemen sozialistisch. Als der Ost-West-Konflikt endete, vereinigten sich die beiden ungleichen Brüder, fünf Monate vor der deutschen Vereinigung. Die neue Republik gab den 22 Millionen Jemeniten ein pluralistisches System, schrieb bürgerliche Grundrechte in die Verfassung. Ein Experiment begann: Wie geht das zusammen, eine junge Demokratie und ein uraltes Patriarchat?

              Als die Anwältin Nabila Al-Mofti vor ein paar Jahren mit zwei Kolleginnen Jemens erste Frauen-Kanzlei gründete, schrieb sie auf das Schild an der Bürotür: „Die Pionierinnen". Alle hatten gewarnt: Nie würden Frauen Mandanten finden. Binnen zweier Wochen hatten sie genug Fälle, sogar ungebildete Männer vertrauten sich ihnen an. Spott und Beleidigungen kamen hingegen von Richtern und Anwälten. „Wenn ich im Gefängnis einen Mandanten besuchte, dann höhnten sie: Was hat eine Frau da unter all den Männer zu suchen?"

            Die 33jährige Nabila ist heute eine bekannte und gefragte Verteidigerin. Beim abendlichen Gespräch in ihrer Kanzlei massiert sie sich erschöpft die Schläfen, der Erfolg hat seinen Preis. Anwältin zu werden, davon träumte sie schon als Mädchen. Weil es keine Anwältinnen gab. Und weil sie, eine Tochter liberaler Eltern, sich zutraute, anderen zu ihrem Recht zu verhelfen. Nun inspiziert sie Gefängnisse, wo manche Frauen nach Verbüßen ihrer Strafe einfach weiter inhaftiert bleiben: Weil die männlichen Angehörigen ihnen die Rückkehr in die Familie verweigern. Sie verteidigt junge Mädchen, die unter der leichtfertigen Anschuldigung verhaftet wurden, sie hätten verbotenen außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabt.

            Die Rechtsanwältin ist geschieden; auf die Frage, ob sie noch einmal heiraten wolle, antwortet Nabila:  „Diese Chance gibt es für mich nicht mehr." Ihr Ton verrät kein Selbstmitleid. „Frauen wie ich stellen für Männer eine rote Linie dar." Und doch bleibt sie beruflich verwundbar, nur weil sie Frau ist. Sorgsam wägt sie ab, bevor sie einen Fall übernimmt, der ihr den Hass mächtiger Gegner eintragen könnte; es sei so leicht, ihren Ruf zu beschädigen. Oft verläßt sie erst spätabends ihr Büro - da muß nur jemand verbreiten, er habe sie aus einem Apartment kommen sehen.

Wie eine trübe Wolke folgen Männer-Phantasien den Jemenitinnen bei ihrem Aufbruch ins öffentliche Leben. Berufstätigkeit und demokratische Mitsprache durchbrechen zwangsläufig die bisher strikte Trennung der Geschlechter. Aber immer noch hängen die meisten Männer ihre Ehre an die Schamhaftigkeit ihrer Frau, ihrer Schwestern. Allzeit sprungbereit das männliche Mißtrauen - und die unbegleitete Frau gefährlich wie eine Bombe.

Fahmia Al-Fotih, eine 27jährige Journalistin, erinnert sich, welche Überwindung es sie kostete, als sie zum ersten Mal eine Pressekonferenz in einem Hotel besuchte. Eine anständige Frau geht nicht in ein Hotel! Fahmia führt keine längeren Interviews mit Männern, das wäre zuviel kompromittierende Nähe, und sie nimmt nie Termine nach Einbruch der Dunkelheit wahr. Ungeachtet dieser Einschränkungen brennt sie vor Ehrgeiz und Tatendrang. Ihre Artikel in der „Yemen Times" berühren die verborgene Doppelmoral einer Schamkultur: Sexuelle Belästigung auf dem Weg zur Arbeit! Ein Phänomen, das auf seine Weise von der Modernisierung der städtischen Gesellschaft erzählt. Vielen jungen Männern fehlt heute das Geld für eine frühe Heirat, ihr Frust entlädt sich an Passantinnen, mögen sie bis zur Wimper verschleiert sein. Und die Frauen, aufgewachsen in behüteter Abgeschirmheit, fühlen sich schnell beschmutzt und bedroht. Ein anzüglicher Ton in der Stimme des Taxifahrers, und manche Jemenitin wechselt das Taxi.

„Die Männer wollen, dass wir uns unwohl fühlen außerhalb der Häuser", glaubt die Journalistin Fahmia. Manche Leser klagen, sie hetze die Frauen gegen die Männer auf. „Ich bin stolz, wenn über meine Artikel diskutiert wird!", entgegnet sie. „Mir wird vorgeworfen, ich sei verwestlicht, aber das ist mir egal. Ich glaube an das, was ich schreibe. Niemand kann meine Prinzipien ändern."

        Auf dem Tahrirplatz, inmitten der Hauptstadt, sitzt im schönsten goldenen Nachmittagslicht Mann neben Mann, als seien weibliche Sitzende noch nicht erfunden. Wenn eine Frau den Platz überquert, dann hastet sie wie ein Reh über eine Lichtung. Kein Kubikzentimeterchen Luft ohne männliche Blicke.

            Und dann kommt sie: Fatimah Al-Huraibi, füllig und resolut, wie imprägniert gegen alle Zumutungen. Eine Ingenieurin, die Politikerin wurde. Ihr Gesicht ist nackt, die Leute kennen es seit langem, sie zeigte es im Fernsehen als Nachrichtensprecherin. Bei der Wahl bekam sie die meisten Stimmen in diesem Bezirk, 100 000 Menschen leben hier, viele arm und ungebildet. Nun ist sie die Chefin des Bezirksrats: der Rat, das sind 25 Männer. Fatimah Al-Huraibi steigt aus ihrem Auto, flankiert von Kalaschnikow-Trägern („meine Soldaten"), die Handtasche am leicht abgespreizten Arm, so beginnt sie mit der Inspektion der umliegenden Märkte.

            Schwärme aufgeregter Männer begleiten jeden ihrer Schritte, manche gaffen in stummem Respekt, andere beschweren sich lauthals. Sie hebt die Stimme, schneidet ihnen das Wort ab, Schluß jetzt!, die Handtasche immer noch abgespreizt. Die Frau mit den beringten Händen und dem braunen Nagellack steht im Krieg, das merkt man erst allmählich, der Krieg geht um Geld und um ihre Person. Sie kämpft gegen Korruption, das hat ihr Feinde eingetragen, die Männer der eigenen Partei wollen sie absägen, die Männer der Opposition stärken ihr den Rücken, auf den Märkten unterzeichnen analphabetische Händler mit Fingerabdruck eine Solidaritätsadresse. „Ich bin erfolgreich", sagt die Kriegerin mit Handtasche kühl. „Das ist mein Fehler. Deshalb habe ich Feinde."

Die Politikerin, die Anwältin, die Journalistin, sie alle hatten Glück mit ihren Vätern. Der Vater ist entscheidend für das Schicksal der Jemenitin. Stellt er sich gegen den Schulbesuch, gegen höhere Bildung, dann veröden alle Mädchenträume in der Sackgasse früher Verheiratung, dann wird die Tochter vielleicht schon mit 12 zur Braut, vor dem Ende der Grundschule. Jemens Verfassung garantiert Frauen volle Bürgerrechte; im Alltag sind Tradition und Kultur mächtiger als Paragraphen. 70 Prozent der Frauen sind Analphabetinnen.

Was für ein Name: „Girls` World Communication Center"! Eine Nicht-Regierungsorganisation, 250 Mädchen und junge Frauen lernen hier Englisch, üben mit Computer und Internet, machen sich fit für die Bewerbung um einen Job oder einen Studienplatz. Im Treppenaufgang ein handgemaltes Plakat: „Bildung macht Dich frei!„ Darunter steht: „Wir werden mitreden, wie unsere Welt regiert wird."

Und doch wieder Geschlechtertrennung - muß das sein? Ein Notbehelf, erläutert eine Beraterin. Viele Familien ließen ihre Töchter nicht in gemischte Internetcafés oder Kurse; auch fühlten sich die Mädchen wohler, wenn sie unter sich seien. „Aber es ist nicht gesund, sie zu isolieren. Die Mädchen bleiben ängstlich, fühlen sich schwach, solange sie denken, die Außenwelt sei das Territorium der Männer." Deshalb gezielter Regelbruch: Im Center werden auch männliche Trainer eingesetzt.

Gespräch mit einer 19jährigen, ihr blasses Gesichtchen wie ein schwarz gerahmtes Dreieck.  „Ich lerne Englisch, weil ich eine wichtige Person werden will", sagt sie. „Ich möchte alles im Jemen verändern!" Rigoros urteilt sie über Mädchen, die sich von ihren Familien einsperren lassen: „Wer etwas wirklich will, läßt sich nicht aufhalten."

Vielleicht ist es dieser Spirit, der Jemen unterscheidet; die Vermessenheit der Pionierinnen, ihr Selbstvertrauen, ihre Ungeduld. Westliche Augen sehen nur das Patriarchat; wer hier lebt, spricht von rasanten Veränderungen. Wurden nicht eben noch die Stadttore abends mit einem großen Schlüssel verschlossen? Jetzt gibt es gender studies an den Universitäten, Frauenbeauftragte in den Ministerien und ein „Nationales Frauenkomitee" - es fordert die Einführung der Quote.

Anders als in Saudi-Arabien oder Kuwait haben im Jemen Frauen das Wahlrecht -  doch im Parlament sitzt nur eine Frau zwischen 300 Männern. Das Nationale Frauenkomitee, von der Regierung eingesetzt, verlangt 30 Prozent der Parlamentssitze für Frauen.  Staatspräsident Ali Abdullah Saleh hat vorerst zehn Prozent versprochen.

Arabische Demokratie ist nur möglich mit Beteiligung der Frauen. Und der Islam kann auf diesem Weg sowohl hinderlich als auch förderlich sein.

Vor der Vereinigung war im streng islamisch geprägten  Nordjemen eine politisch aktive Frau religiös undenkbar. Im Süden hingegen demonstrierten in Aden in den 60er Jahren Schülerinnen unverschleiert für die nationale Befreiung, und während der 23 Jahre sozialistischer Volksrepublik hatten die Südjemenitinnen später den besten rechtlichen Status der Region, die niedrigste Geburtenrate, den höchsten Bildungsgrad. Doch der Fortschritt war vergänglich. Der vereinigte Jemen geriet rasch unter die Dominanz des Nordens: Weil er viermal mehr Einwohner stellte als der Süden. Und weil der religiös und kulturell tief verwurzelte Konservatismus des Nordens stärker war als die flüchtige Säkularisierung und Modernisierung im postsozialistischen Süden. Die Freiheiten der Frauen in Aden wurden zum ersten Opfer der Einheit. Polygamie und Schleier kehrten zurück.

Damit war der erste kurze Frühling der Erwartungen zu Ende. Wer geglaubt hatte, der vereinigte Jemen würde rasch ein besseres, freieres, reicheres Land, war enttäuscht. Im wirtschaftlich maroden Süden nährte die Enttäuschung Sezessionsgelüste. 1994 entbrannte ein Brüderkrieg, er endete mit der Niederlage des Südens. Aden wurde geplündert, die Sozialisten sahen sich als politische Kraft entmachtet.

Heute sind die Karten neu gemischt: An Stelle der Sozialisten ist eine Islam-Partei namens Islah ("Reform") gerückt; sie ist die zweitstärkste Kraft im Parlament, die wichtigste Opposition gegen den Präsidenten. Den moderaten Islamisten gelang Erstaunliches: Sie haben sich zur Stimme der Einheitsverlierer im Süden gemacht, und sie ziehen Frauen an, junge, gebildete.

Eine Gesprächsrunde mit Islah-Aktivistinnen: Sie begründen ihr politisches Engagement aus der Religion; so schlucken es ihre konservativen Familien. Dass nach dem Islah-Programm weibliche Berufstätigkeit nur erwünscht ist, wenn der Haushalt das Geld dringend benötigt, schieben die Frauen achselzuckend beiseite: Entscheidend sei, ob die Gesellschaft sie braucht! Bei Wahlen hat die Partei bisher keine Kandidatinnen nominiert, doch die Runde  hier debattiert schon über die Quote. Zweifellos fühlen sich diese konservativ-modernen Musliminnen als Teil des demokratischen Aufbruchs.

Aber welche Widersprüche prallen da aufeinander! Eine Ältere in der Runde hat für ihren Mann eine jüngere Zweitfrau ausgesucht; es war ihre Idee, sagt sie, ein Geschenk, aus Liebe. Beide sitzen nun in dieser Runde, beide gebildet und berufstätig. Sie leben im selben Haus, Wand an Wand.

Extreme der Frauenbewegung - am anderen Ende: Die Feministin Rauffa Hassan. Die 46jährige ist ein zierliches Persönchen, ein Paradiesvogel, durch Jemens Zivilgesellschaft flatternd. Bedroht von radikalen Islamisten flüchtete die Professorin für Massenkommunikation 1999 für Jahre aus dem Land. Fanatiker hatten in Moscheen Unterschriften gegen ihr Frauenforschungsinstitut gesammelt; in Freitagspredigten wurde sie beschuldigt, Homosexualität zu propagieren. Die Universität gab dem Druck nach, schloß Rauffas Institut. Später stand sie auf einer Liste von Todeskandidaten. „Ich war die einzige Frau auf der Liste, neben 51 Männernamen. Aber das ist keine besondere Ehre."

Im Exil zog sie von Holland nach Tunesien, vom Libanon nach Ägypten, lehrte in Oldenburg, arbeitete dann wieder in Kairo. Eine moderne Nomadin; ihre Weltläufigkeit ist der denkbar schärfste Gegensatz zur Weltenge einer traditionell lebenden Jemenitin. Deren Weg führt nur bis zu den Frauen der Nachbarschaft - durch einen schmalen Gang, der die Obergeschosse der Häuser verbindet.

 Eine Tagesreise von der Hauptstadt Sanaa entfernt liegt das Wadi Hadramaut: ein Wüstental, berühmt für seine jahrhundertealten safranfarbenen Hochhäuser aus Lehm. Hier ist Südjemen, ehemals sozialistisch, doch der Sozialismus kam hier nie an, vor allem kein Fortschritt für die  Frauen.

Eine verschlossene, streng-konservative Gesellschaft, Frauen und Mädchen verbergend hinter hohen Fassaden. Die kleinen Fenster doppelt blickgeschützt durch Schnitzwerk und Vorhänge. Auf den flachen Dächern Luken wie Schießscharten, durch sie können Frauen ein kleines Rechteck Straße sehen, ein Rechteck Leben, ohne selbst gesehen zu werden.

Weiterfahrt über Land. Zwei seltsame Kegel sitzen in einem Feld; es sind hohe spitze Hüte aus Palmstroh. Darunter schwarz eingewickelt und rundum verschnürt zwei Frauen, zwei Stoffpakete wie kleine Vogelscheuchen, die Hände graben fleißig im Grün. Kein Gesicht zu sehen, keine Augen, nur schwarzer Stoff. Für eine Sekunde blickt der schwarze Stoff herüber, dann senken die Frauen schamhaft ihre Köpfe, die hohen Hüte neigen sich ins Grün wie  Hörner scheuer Tiere.

Von den gebildeten Pionierinnen in der Stadt scheinen diese Jemenitinnen wie Jahrhunderte entfernt. Während berufstätige Städterinnen beginnen, den Gesichtsschleier abzulegen, verschleiern sich Frauen auf dem Land manchmal strenger als früher. Ihre traditionellen bunten Umhänge weichen dem Schwarz: Mit der asphaltierten Straße kommt im Dorf eine von Saudi-Arabien geprägte Mode an. Und ganz privat, nur für ihre Ehemänner, ziehen sich viele Frauen heute gerne so sexy an, wie sie es im Satelitten-Fernsehen sehen. Modernisierung hat viele Facetten.                           

Sie trägt Nadelstreifen: Amat Al-Alim Al-Soswa, die einzige Frau im Kabinett, die einzige Menschenrechtsministerin der Welt. Zuvor war diese Tochter einer Analphabetin Jemens erste Botschafterin. Die 47jährige, unverschleiert und eloquent, ist der Star aller ehrgeizigen jungen Jemenitinnen. Sie griff Mißstände auf, die zu benennen vorher „als Beleidigung unserer Kultur galt", etwa den Kinderhandel. „Die Arabische Liga brauchte elf Jahre, um das Wort Menschenrechte zu akzeptieren. Aber Araber sind Menschen wie alle anderen", sagt Amat Al-Alim. Ihr selbst wurde lange vorgehalten, sie würde die Werte ihres Landes nicht respektieren. Frauen müssen das aushalten, meint sie. „Wir können nicht warten, bis sich unsere ganze Kultur geändert hat."