Aufbruch hinter dem Vorhang

Eine Frauenquote hilft Frauen in die Politik. Und Straßensperren
halten sie davon ab zu wählen. Pakistan - ein Land der Extreme

Wie spricht man zu einer Burka? Am Anfang fällt es schwer. Als spräche man zu einem Zelt, ohne zu wissen, ob es bewohnt ist. 

In der Altstadt von Peshawar sitzen fünf Zelte reglos im Staub der Straße; sie sind senfgelb, aus dem schweren Stoff der dörflichen Burka. Die Augengitter sind auf Stapel von Fladenbrot gerichtet, die Brote liegen in der Auslage einer Bäckerei, es sind Brote für Arme, gleich werden sie als Almosen verteilt an die Wartenden. Es wäre noch Zeit für ein Foto. Ein Foto?! Unter den Zelten bricht Unruhe aus, hastig kommen Zeigefinger hervor, fuchteln energisch, panisch: Nein! Als sei der schwere Stoff nicht Schutz genug, die Gesichter zu verbergen. An den Zeigefingern ist Alter zu sehen.

Peshawar ist die Hauptstadt der Northwest Frontier Province, Pakistans Nordwesten; Afghanistan ist kaum eine Stunde Fahrt entfernt. Diesseits und jenseits der Grenze leben Pashtunen, sie haben eine strikte Auffassung, was Frauen tun sollten und was nicht. Wer durch die Provinz fährt, kann eine Stunde aus dem Wagenfenster blicken, ohne eine Frau zu sehen.

Die Straßen der Altstadt von Peshawar sind wie in hellgrau gekleidet - hellgrau, hellblau und beige sind die knielangen Hemden der Männer, die sie über ihren Pluderhosen tragen. Dazwischen seltene andersfarbene Punkte: Burka, Tschador, Schleier. Kutscher lenken stehend ihre Pferdefuhrwerke durchs Gewühl, Turbanträger mit schwarz geschminkten Augen halten Händchen. Eine Männergesellschaft, rau und verwegen nach außen, verhalten zärtlich nach innen.

 Im Basar gehe ich in einen Stoffladen, um eine Burka ausprobieren. Das Sehgitter verläuft zu Schlieren im Blickfeld; im Spiegel sehe ich ein Zelt, das meine Sandalen trägt. Der Verkäufer gestikuliert: Steht Ihnen gut! Es ist lehrreich, sich selbst als Zelt zu sehen: Es hilft, unter anderen Zelten die Individualität zu ahnen.

Vieles ist nicht sichtbar hier; auch die Revolution, die diese Verhältnisse sanft aber nachhaltig zu erschüttern beginnt, trägt einen Schleier. Er legt sich als doppelte Lage schwarzer Gaze über das Gesicht der dicken Eid Bibi; ihre Burka ist zweiteilig und aus leichter Kunstfaser, das ist die modernere Variante. So verhüllt geht die 52jährige Landfrau öffentlichen Geschäften nach: Sie ist Mitglied eines Gemeinderats, der örtlichen Regierung. Wenn Eid Bibi den schwarzen Schleier zurückschlägt, überrascht ihr fester Blick. Selbstsicher und ein wenig spöttisch fixiert sie ihr Gegenüber, beide Nasenflügel bewehrt mit blinkenden Messingkugeln. Nach dem Essen klaubt sie eine Sicherheitsnadel vom gewaltigen Busen und säubert sich mit Muße die Zähne.

Eid Bibi ist eine politische Pionierin, eine von 28 553. So viele Frauen wurden in den vergangenen sechs Jahren mithilfe einer Frauenquote in die Gemeinde-, Stadt- und Bezirksräte gewählt. Ein Drittel der Sitze für Frauen zu reservieren, das war eine Forderung pakistanischer Frauenorganisationen -  für alle überraschend erfüllte sie der Präsident. General Pervez Musharraf, der sich selbst 1999 die Macht im Handstreich genommen hatte, wollte beweisen, dass er die Macht in Pakistan gerechter verteilen will.

28 553 Basis-Politikerinnen - noch nie hat es in einer patriarchalischen Gesellschaft einen solch abrupten Zuwachs an weiblicher Teilhabe gegeben. Die meisten dieser Frauen hatten vorher nichts mit Politik zu tun, viele sind sogar Analphabeten. In Pakistan können zwei Drittel der Männer lesen und schreiben, aber nur ein Drittel der Frauen, und oft langt es zu kaum mehr als dem eignen Namen.

„Die Leute glauben, Bildung für Mädchen ist gefährlich und gegen unsere Kultur. Sie sagen, wenn ein Mädchen schreiben kann, dann wird sie Liebesbriefe schreiben und will nicht den Cousin heiraten." Eid Bibi lacht ein bisschen in sich hinein. „Die Männer haben doch selbst so wenig Bildung, sie haben Angst, dass Frauen die Oberhand gewinnen." Bildung ist ein Zauberwort; wo immer man eine Gemeinderätin trifft, wird das Gespräch davon handeln: Schulen für Mädchen! Manche Frauen haben nur deshalb kandidiert, ihre Vorstellung von Fortschritt, von Entwicklung, von Politik kulminiert in diesem einen Ziel: Eine Schule für Mädchen!

Illahia, 26, hat sich in einen gemusterten Tschador gehüllt, er lässt nur die Augenpartie frei, und die Augen senden Blitze des Zorns. Illahia verfügt nicht über den spöttischen Langmut der dicken Eid Bibi, sie bebt vor Ärger und vor mühsam unterdrückter Energie. Sie wollte eine Schule einrichten, aber der Bürgermeister blockiert alles, er lässt lieber die Straße pflastern, wo seine Günstlinge wohnen, als ihr das Geld für eine Schule zu geben. Nun unterrichtet sie behelfsmäßig im eigenen Haus.

Politik, das heißt in den großen ländlich-feudalen Regionen Pakistans vor allem: Patronage. Wer gewählt werden will, verspricht handfeste Vorteile, einer Familie, einem Clan - und muss später liefern. So werden Gemeinde-Etats verschachert. Noch immer ziehen Männer in diesem Spiel die Fäden, sie machen ihre weit verzweigten Familienverbände zum Instrument der Macht. Verstohlener Blick in das Anwesen  eines Bürgermeisters: Von einer Mauer umgeben der riesige Hof, ein Dorf im Dorfe; der Mann steht einem Haushalt von 50 Menschen vor, Zweitfrau inbegriffen. Die weiblichen Familienmitglieder dürfen nur die Häuser anderer Verwandter besuchen, derweil fährt der Bürgermeister im Allrad-Wagen davon.

In diesen bleiernen Verhältnissen stellt die Frauenquote plötzlich Gesetz gegen Sitte. Die Pionierinnen verletzen mit jedem Schritt uralte Regeln, sie nehmen sich unerhörte Freiheiten allein durch eine Bereisung des Wahlkreises. Manchmal fährt auch die dicke Eid Bibi im Allrad-Wagen mit Fahrer; manchmal hat sie sogar einen Polizisten als Schutz dabei, mit aufgepflanztem Gewehr. Dann sehen die Frauen in den Dörfern mit Erstaunen: Eine Frau kann wichtig sein.

Unser Weg führt weiter nach Westen. Südlich des Khyber-Passes schiebt sich eine spärlich besiedelte Region Pakistans wie eine Nase nach Afghanistan hinein. An der Strecke dorthin liegt Hangu, ein Städtchen, in dem man gewiss nichts Avantgardistisches erwarten würde. Aber siehe da! An der Hauptstraße verweist ein grünes Schild in Urdu und Englisch zu einem „Bürgeraktionskomitee für Frauenrechte" - und dort warten vier bescheidene junge Männer. Es gibt im ganzen Land 66 solcher Komitees; sie wurden von der „Aurat"-Stiftung initiiert, Pakistans größter Frauenorganisation. Ihr starkes Netz stützt die Gemeinderätinnen, und unter den 1500 ehrenamtlichen Aktivisten sind viele männlich. Das macht Sinn:  Denn in einer Gesellschaft, wo Frauen mit fremden Männern kaum reden dürfen, können oft nur Männer andere Männer überzeugen.

Das Büro des Komitees von Hangu ist ein kahler Raum mit ein paar Plakaten; die Geschlechter sitzen getrennt, hier die Männer aufgereiht, dort die Gemeinderätinnen und weibliche Besucherinnen. Die steife Sitzordnung verbirgt dem ungeübten Auge, wie freizügig es hier zugeht: Frauen mit nichtverwandten Männern in einem Raum! Und sie haben sogar die Burkas abgelegt! Die Atmosphäre wirkt kollegial. Der Bericht der Komitee-Männer über die Geisteswelt ihres Geschlechts beginnt folgendermaßen: „Jeder weiß, dass die Amerikaner im Irak Unrecht tun. Frauenrechte gelten als westliche Idee, und viele ziehen eine Verbindung zwischen den USA und den Frauenrechten."

 In der örtlichen Moschee, erzählen sie weiter, verlange der Imam, dass die Männer die erste Menstruation ihrer Töchter öffentlich bekannt geben: Damit alle wissen, wann die Mädchen heiratbar sind. Die Komitee-Männer widersprechen: „Der Islam gibt Frauen das Recht, solche Dinge selbst zu entscheiden."

Was macht diese Männer anders? Entscheidend ist: Sie haben Bildung, sie haben ein paar Bücher gelesen, sie haben auch den Koran selbst gelesen, verlassen sich nicht, wie viele andere, bloß auf Hörensagen. Sie wissen also, dass der örtliche Imam eine archaische Version ihrer Religion predigt. Gewiss sind diese Kämpfer für Frauenrechte keine Feministen, auch sie haben klare Vorstellungen, was Frauen tun sollten und was nicht. Sie sollten zum Beispiel Lehrerin sein. „Frauen sind die besseren Lehrerinnen, weil sie geduldiger sind." Die meisten Frauen auf der Stuhlreihe gegenüber nicken.

Nicht überall in Pakistan sind die patriarchalen Traditionen so mächtig wie in dieser nordwestlichen Provinz. Hier gibt es Landstriche, wo die stolzen Pashtunen gegen Frauenrechte kämpfen wie gegen eine feindliche Invasion. Bei der ersten Wahl nach Einführung der Quote blockierten bewaffnete Militante die Straße zum Wahlbüro, hielten Frauen mit Gewalt davon ab, ihre Unterlagen fristgerecht einzureichen. Religionsführer drohten, eine Frau, die als Gemeinderätin kandidiere, bekomme fortan weder einen Heiratsvertrag noch ihr Sterbegebet. In einem Distrikt beschlossen die Führer aller Parteien: Bei uns gehen die Frauen nicht wählen. Und die Frauen trauten sich tatsächlich nicht aus dem Haus.

         Allein die Namen ihrer Ehefrauen und Töchter bekannt zu geben durch den Eintrag in einer Wählerliste, das empfinden diese Männer bereits als Entehrung, als Verstoß gegen Purdah, die uralte Sitte, Frauen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Das Wort kommt aus dem Persischen, bedeutet Schleier oder Vorhang. Durch die arabisch-islamische Eroberung Persiens im 7. Jahrhundert kam der Purdah-Gedanke zu den Muslimen, und mit ihnen hielt er später Einzug in Nordindien, auch bei den Oberklassen der Hindus. Die Ärmsten konnten es sich nie leisten, ihre Frauen in ehrenvoller Untätigkeit einzusperren.

       Purdah - manche Gemeinderäte tagen nun tatsächlich mit einem Vorhang in der Mitte, rechts die Frauen, links die Männer, nur keine Blicke tauschen! Als eine angereiste Aktivistin der „Aurat"-Stiftung in einem solchen Ort einen Vortrag hielt, wurden die Männer unruhig: Plötzlich geschah das Wichtigste nicht mehr auf ihrer Seite des Vorhangs. Sie verlangten, die Rednerin zu sehen, so wurde ein Loch in den Vorhang geschnitten. Ein symbolischer Akt. Das Loch ließ sich nie mehr schließen, der Vorhang wurde später entfernt.

Wo die braunen trockenen Hügel allmählich in Berge übergehen, liegt das Städtchen Thal. Purdah ist hier das oberste Prinzip des Lebens, die Frauen sind unsichtbar, 9000 Frauen und Mädchen leben versteckt hinter den hohen lehmgelben Mauern, die den Hof eines jeden Hauses umgeben. Vor den Haustüren hängen zur Gasse hin schwere Decken, um den fremden Blick zu blockieren, falls die Tür einmal versehentlich einen Spalt offen steht. Bei armen Leuten hängen Vorhänge aus zusammengenähten Reissäcken vor der Tür.

      Romana Malik wartet auf mich in einem schön gekachelten Hof, die Mauern sind blau, das Haus komfortabel - gleichsam ein vergoldeter Käfig. Es erscheint unvorstellbar, dass eine Frau, die ein freieres Leben kennt,  freiwillig nach Thal käme. Doch Romana hat genau das getan. Die Liebe zu einem Pashtunen hat die Lehrerin aus der Großstadt in dieses Sittengefängnis gelockt.  Nun versucht sie,  Stäbe aus den Gittern zu brechen. Auch Romana ist Gemeinderätin, aber an den Sitzungen mit Männern  teilnehmen ist undenkbar: Purdah!

            Die meisten Frauen in Thal sehen nur ihre vier Wände, verlassen ihr Haus bloß für Familienfeiern, ein paar mal im Jahr. Romana setzt sich über die Gepflogenheiten hinweg, sie geht aus, schwitzend unter ihrer weißen Burka, die sie mit zorniger Verachtung „meinen Fallschirm" nennt. „Die Mullahs hier sagen, ohne Socken würden Frauen zur Hölle fahren. Mir ist das zu warm. Und man kann auch mit Socken zu Hölle fahren."  Anklagend führt sie mich durch die Stadt; vor dem Internet-Café steht eine Phalanx von Männern, Romana gestikuliert wie ein Bettuch-Gespenst: „Natürlich ist das nicht für uns!" Dann zeigt sie mir, wie Witwen leben in Purdah: Sie halten Kühe im Hausflur, es stinkt, überall Fliegen; der Verkauf von Milch hilft den Witwen zu überleben, ohne das Haus zu verlassen. Die Frauen kennen Romana, begrüßen sie freudig; sie tut, was andere nicht wagen.

        Aber nun zupft ihr neunjähriger Sohn, der uns durch die Stadt begleitet, nervös an ihrer Burka. Die Ausländerin, flüstert er, solle sich doch bitte richtig verschleiern, ihr Tuch über die Nasenspitze ziehen. Das nackte Gesicht ist ihm peinlich. Was werden sie morgen in der Schule sagen! -

 

Lahore, im Osten Pakistans.

Der Campus des Kinnaird-College ist ein schattiger Park mit Backstein-Gebäuden. Studentinnen schlendern durch Arkadengänge, Bücher unterm Arm, das Haar meist unbedeckt, und von ihren Schultern flattert fröhlich die Dupatta, ein großer Schal, wie ihn auch Inderinnen tragen. Die Grenze zu Indien ist nur eine halbe Fahrstunde entfernt.

Nach der erstickenden Enge von Thal wirkt der Campus des Kinnaird-College wie ein Paradies, ein Paradies für Frauen.

 Lahore, Pakistans kulturelle Metropole, hat mehr als ein Dutzend Frauen-Colleges, dies ist das Angesehenste. Hier werden nur die Besten genommen, meist stammen sie aus Familien, die sowohl wohlhabend als auch weltoffen sind. Das College gehört der christlichen Kirche, die Lehrenden und die rund 3000 Studentinnen sind hingegen ganz überwiegend Musliminnen. Bei einer Feier werden erst ein paar Zeilen aus dem Koran gelesen, dann aus der Bibel. Der Unterricht ist strikt säkular.

 Die Kombination von Toleranz und Leistungsorientierung hat das College zu einem Motor der Emanzipation gemacht. Von hier kamen Frauen, die mehr wollten und mehr wagten - die Philosophie-Professorin wie die Pilotin, die Unternehmerin, die Fotografin.

Das ist der Geist von Mira Phailbus: Die 67jährige Christin im farbenfrohen Sari war bis vor kurzem die Rektorin, sie verkörpert das Kinnaird`sche Frauenideal - eine Art feministische Damenhaftigkeit. Nie würde Mira Phailbus den Lippenstift vergessen, aber sie würde auch nicht zögern, unterm Tisch wenn nötig Tritte auszuteilen. Ihr kleines, unprätentiöses Büro ist voll gestopft mit College-Trophäen. Gerade ist ein Frauenmagazin zum Interview da, natürlich auch eine Absolventin; die Tonlage zwischen der Alten und der Jungen ist verschwörerisch.

       30 Jahren hat Mira Phailbus das College gesteuert und sein Gesicht komplett verändert. Früher lieferte das ehrwürdige Institut -  gegründet 1913 -  den Oberklasse-Ehen überqualifizierte Hausfrauen; heute ist es ein Sprungbrett für Karrieren. „Frauen müssen berufstätig sein", sagt Mira Phailbus kategorisch. „Sie können für die Gesellschaft weit mehr leisten als nur ihre Kinder zu erziehen. Wir waren unserer Zeit voraus, wir haben die Grenzen des Möglichen verschoben. Viele unserer Absolventinnen wurden Vorbilder für eine ganze Generation."

Eine Szene wie aus einem Lehrfilm für weibliches Networking: Im College-Flur steht die junge Managerin einer Elektronikfirma, wedelt mit Papieren, auf denen die verheißungsvolle Überschrift „Career Opportunity" zu lesen ist. Sie will Absolventinnen für die freien Stellen in ihrem Unternehmen anwerben: „Wir sind nur drei Frauen unter 300 Beschäftigten; dabei sind Frauen doch einfach besser!" Sie geht mit den Stellenangeboten nur zu den Spitzen-Instituten, zum Kinnaird-College und zur „Lahore University of Management Sciences". Letztere ist eine  private Elite-Universität, deren Semestergebühren so hoch sind wie zwei Jahresgehälter eines Textilarbeiters. Der Frauenanteil dort beträgt 40 Prozent -  Pakistans Oberklasse lässt sich die Ausbildung ihrer  Töchter durchaus etwas kosten.

Nach westlichen Maßstäben sind die Sitten am Kinnaird-College konservativ. Liebeleien mit Jungs sind tabu, „das ist nicht unsere Kultur", sagt eine Dozentin. Junge Männer sind nur zu besonderen Gelegenheiten auf dem Campus zugelassen, bei so genannten „geführten Begegnungen" wie im Debattier-Klub, wo nach anglo-indischem Vorbild Scharfsinn und Eloquenz wetteifern sollen. Die Kinnaird-Mädchen gelten als ebenso schön wie arrogant.

Der Fachbereich Massenkommunikation hat mich zur Diskussion mit einer Abschlussklasse eingeladen: 25 streitlustige junge Damen mit brillantem Englisch nehmen mich ins Verhör. Warum ist das Pakistan-Bild im Westen so negativ? Warum werden in Frankreich und Deutschland Kopftücher geächtet? Warum gelten alle Musliminnen als unterdrückt? „Wir Städterinnen sind genauso frei wie ihr Frauen im Westen", sagt eine Studentin, „aber uns ist die Familie eben wichtiger als euch." Und auf was richtet sich ihr Ehrgeiz als künftige Journalistinnen? Die Antwort ist gewollt provokant: „Der westlichen Propaganda entgegentreten!"

Über Pakistans Presse ist bei uns genauso wenig bekannt wie über solche jungen Frauen. Die englischsprachigen Zeitungen berichten freimütig und kritisch. Häufig werden Frauenbelange thematisiert, und die Artikel zeigen, dass der Kampf um Teilhabe keineswegs auf die Oberklasse begrenzt ist. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit!, beschließt eine Gewerkschafterkonferenz. Schluss mit geschlechtlicher Diskriminierung am Arbeitsplatz!, verlangt die Chefin einer Women Workers Helpline. „In unseren Filmen kommen Frauen nur als Püppchen vor", beschwert sich eine Schauspielerin. In allen Redaktionen arbeiten Frauen; ein angesehenes politisches Magazin hat eine Chefredakteurin.

 

         Ein Abend in Lahore, eine dunkle Seitenstraße. Hinter einer Mauer ein großer Garten, auf dem kurz geschorenen Rasen ist mit weißer Kreide ein Kreis gezogen, um ihn herum stehen Stühle. Plötzlich springt eine Gruppe schwarz gekleideter Männer und Frauen in den Scheinwerferkegel des Kreises, brüllend und gestikulierend. Das ist Theater, ein Theater ohne Requisiten; das Stück handelt von Demokratie und religiösem Fanatismus. Das Thema scheint brandaktuell, dabei ist alles an diesem Abend ein Jubiläum, eine Erinnerung an die Zeit, als religiöser Extremismus in Pakistan erstmals in großem Stil an Macht gewann. Es war die Zeit des Militärregimes unter General Zia ul-Haq, der sich 1977 an die Macht geputscht hatte. Damals trat das Ensemble „Ajoka"  auf dieser Wiese zum ersten Mal auf, in einem ganz ähnlichen Kreidekreis. Der Garten, das private Grundstück, schützte die Schauspieler vor den Häschern der Diktatur. Am heutigen Abend sind die äußeren Umstände freiheitlicher - aber die Schauspieler wollen daran erinnern, dass sich die Ziele des Kampfs seit damals nicht wesentlich geändert haben.

           Das elf Jahre währende Regime von Zia ul-Haq hat Pakistan ein verheerendes Erbe hinterlassen. Um seine Macht zu legitimieren und zu festigen, bediente der General sich radikaler islamischer Ideologien,  verbündete sich mit religiösen Extremisten und führte 1979 ein Bündel von Strafvorschriften der Sharia ein - parallel zum gemeinhin geltenden säkularen Recht. Extreme Körperstrafen wie Steinigung oder Amputation wurden zwar in der Folgezeit nie angewandt, aber durch die sogenannten „Hudud"-Vorschriften erfuhren Gewalt und Willkür gegenüber Frauen nun plötzlich eine religiöse Rechtfertigung. Wie sollte eine Vergewaltigte noch Anklage erheben können, wenn sie dafür vier männliche Zeugen beibringen musste?

       General Zia ul-Haq aber wurde ein Held des freien Westens. Mittlerweile war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert, die Amerikaner pumpten Geld und Waffen nach Pakistan und unterstützten jeden radikalen Religionskämpfer, solange er antisowjetisch war. Der politische Fallout dieser Ära ist bekannt, es folgten die Taliban, das Attentat vom 11. September 2001, es folgte ein neuer Afghanistankrieg und wiederum Jahre der Instabilität. Der Abend in diesem Garten in Lahore erinnert an ein wenig bekanntes Detail in diesem großen Szenario: General Zia ul-Haq bekam die Unterstützung des Westens, während er zu Hause Frauen-Demonstrationen zerschlagen ließ. Es waren die Demonstrationen von Musliminnen, die gegen die Beschneidung ihrer Freiheiten protestierten.

          Zu ihnen gehörte Madeeha Gauhar, die Gründerin und Regisseurin des „Ajoka"-Theaters. Sie steht an diesem Abend im Scheinwerferkegel des dunklen Gartens, eine Frau von kräftiger, mütterlicher Statur, das langes Haar nach hinten gebunden. Sie landete im Gefängnis damals, genauso wie andere Vorkämpferinnen für Frauen- und Menschenrechte, von denen in diesem Kapitel noch die Rede sein wird, etwa die Rechtsanwältinnen Asma Jahangir und Hina Jilani. Allesamt waren sie gebildete junge Städterinnen; sie gingen auf die Barrikaden, als der General Mädchen den Zugang zu ko-edukativen Lehranstalten versperrte und an den Schulen propagieren ließ, Frauen gehörten ins Haus. Doch die Masse der Frauen Pakistans war nicht in der Lage, die Flugblätter der Protestierenden überhaupt zu lesen. Und sie träumten eher von einem Eimer sauberen Wassers als von Koedukation. So wurde die Erfahrung der Repression für die städtischen Frauenrechtlerinnen zum Wendepunkt: Der Kampf musste auf die Dörfer getragen werden.

          Die einen gründeten „Aurat", die Stiftung, das Netzwerk für Frauen, in dem auch viele Männer aktiv wurden.  Madeeha Gauhar gründete „Ajoka":  ein volksnahes Emanzipations-Theater. Und tatsächlich sahen später Millionen von Zuschauern seine Stücke, Aufklärung über Vergewaltigung, Ehrenmorde und Zwangsheirat und über das vermeintliche Unglück, ein Mädchen zur Welt zu bringen. Längst ist das einstige Untergrundtheater  gesellschaftlich anerkannt, manche Produktionen liefen im staatlichen Fernsehen. Und unter der Regie von Madeeha Gauhar standen erstmals indische und pakistanische Schauspieler gemeinsam auf einer Bühne - wie selbstverständlich widmete sich die Wiederentdeckung gemeinsamer Kultur auch Frauenbelangen.

Dies ist die andere Seite des patriarchalischen Pakistan: Frauenrechte sind kein belächelter Nebenaspekt, dafür ist die Rolle der Frauen viel zu kontrovers, viel zu wichtig im Tauziehen zwischen Modernisierern und Traditionalisten, im Ringen zwischen einem moderaten und einem extremen Islam.

Die islamischen Strafvorschriften, die 1979 eingeführt wurden, sind bis heute ein zentrales Element in diesem Tauziehen geblieben. Die ultrareligiösen und traditionalistischen Kräfte verteidigen sie, die Frauen- und Menschenrechtsbewegung hat hingegen immer wieder neue Anläufe für ihre Abschaffung unternommen. Im November 2006 hatten diese Bemühungen zumindest einen Teil-Erfolg, um den wiederum bis zur letzten Minute im Parlament gerungen wurde: Ein so genanntes „Gesetz zum Schutz der Frauen" lässt nun Vergewaltigungs-Anklagen wieder vor säkularen Gerichten zu. Damit fällt die absurde Bedingung, dass eine Vergewaltigte vier Zeugen für die Tat beibringen muss. In der Vergangenheit waren viele Frauen Opfer einer religiösen Doppelmoral geworden: Weil sie aus nahe liegenden Gründen keine Zeugen für die Vergewaltigung hatten, wurden sie selbst des verbotenen, außerehelichen Geschlechtsverkehrs beschuldigt  und ins Gefängnis geworfen. Denn sie hatten ihr vermeintliches Vergehen ja zugegeben.

Eine Untersuchung im Auftrag von Pakistans Nationaler Gleichstellungskommission fand heraus, dass 88 Prozent aller weiblichen Häftlinge in Pakistan wegen des Vorwurfs illegalen Geschlechtsverkehrs im Gefängnis sitzen. Fast immer sind es arme Frauen, oft sind sie Analphabetinnen. Tausende von Opfern einer religiös drapierten Willkür nun tatsächlich aus den Gefängnissen heraus zu holen, darum wird nun das weitere Tauziehen gehen.

Manchmal hat man den Eindruck, als gäbe es in Pakistan nur Extreme bezüglich der Stellung der Frau: hier völlig rechtlose, diskriminierte Wesen, dort kraftvolle, kampferprobte Gestalten.

In diesem Land, das so viele Jahre seiner kurzen Existenz unter Militärherrschaft gestanden hat, sind starke Frauen der Kern der Zivilgesellschaft,  der Nukleus eines lichteren Pakistan. Sie können regelrecht einschüchternd sein - gegen Pakistans Powerfrauen wirken wir Westlich-Emanzipierte wie Federn im Wind. Diese männerdominierte Gesellschaft bringt einen anderen Frauentypus hervor: umwerfend selbstbewusst, raumgreifend im Auftreten, mit einer Ausstrahlung ungehemmten Machtwillens. „Ich bin eine aggressive Frau", sagt eine leitende Managerin unbekümmert. „Ich treffe härtere Entscheidungen als die Männer und setze sie härter durch."

Viele pakistanische Männer scheinen Angst zu haben vor starken Frauen. Durch die Geschlechtertrennung in den Schulen haben die Männer nie gelernt, sich spielerisch mit Frauen zu messen, gar mit ihnen zu wetteifern. Frauen sind das schlichtweg Andere, letztlich das Unbekannte.

Die pakistanische Psychologin und Feministin Durre S. Ahmed deutet die Frauenunterdrückung während der Taliban-Herrschaft in Afghanistan als extremen Ausdruck der Angst vor diesem Unbekannten. Aufgewachsen als Kriegswaisen in frauenlosen Internaten kannten viele Taliban weder Mütter noch Schwestern, sie verkörperten „die furchtsame Entfremdung vom Weiblichen", sperrten schließlich weg, was sie nicht kannten. Fanatismus, schreibt die Psychologin, sei in allen Religionen die jeweils „hyper-maskuline Lesart".

Emanzipation fordert einen Preis in einer solchen Gesellschaft. „Stark und allein", murmelt Rukhshanda Naz, als ich sie auf ihre Stärke anspreche. Sie leitet die Frauenorganisation „Aurat" in Peshawar, in der schwierigen, konservativen Nordwest-Provinz. Mit elf Jahren, als die Mutter ihr das erste Tuch gab, damit sie sich verschleiere, begann Rukhshanda zu rebellieren, verlangte nach den  Freiheiten ihrer Brüder. Mit 15 trat sie in Hungerstreik, bis die Eltern ihr erlaubten, zum Besuch einer weiterführenden Schule in die Stadt zu ziehen. Später, nach dem Jura-Studium, erpresste sie die Eltern wieder, drohte, sie werde die Familie öffentlich bloßstellen, wenn ihr die Arbeit als Anwältin nicht gestattet würde. Heute, sagt Rukhshanda, diene sie der Familie als Negativbeispiel: Seht ihr, sie hat einen Beruf, aber sie hat keinen Mann. -

Wenn Mädchen zu lieben beginnen, sind sie eine Gefahr, eine Gefahr für die alte Ordnung, denn Liebe macht rebellisch. Die alte Ordnung aber muss verteidigt werden, so geschah es im Dorf Qaloo Khan.

Nusrat war 13, als sie begann, Liebesbriefe zu schreiben an Luqman, den Sohn des Goldschmieds. Zwei Jahre währte die heimliche Romanze. Nusrat füllte mit ordentlicher Handschrift  die herausgerissenen Seiten ihrer Schulhefte, drückte  Kuss-Abdrücke mit braunem Lippenstift auf das Linienpapier, faltete es klein zusammen und warf  die Kügelchen durch ein Loch in der Mauer in Luqmans kleinen Laden. Sie nummerierte die Briefe; der letzte trug die Zahl 100.

Nusrat starb auf dem Weg ins Krankenhaus; es war Selbstmord, verbreiten die Eltern. Doch liegt über dem Dorf eine stumme Gewissheit: Die Eltern haben ihre eigene Tochter vergiftet. Ein so genannter Ehrenmord.  Nusrats Liebe verstieß gegen den Willen und gegen das Klassendenken ihrer Familie; es sind Großgrundbesitzer, eine Verbindung mit dem landlosen Goldschmied kam nicht in Frage. Es scheint unbegreiflich: Sie opferten die Tochter um der feudalen Ordnung willen.

Es war der zwölfte Tag nach Nusrats Tod, als Luqman, islamischer Sitte folgend, am Grab saß und betete. Soviel Liebe über den Tod hinaus war eine erneute Provokation. Ein Bruder des Mädchens erschoss den 17jährigen an Ort und Stelle, auf dem Friedhof.

Im Haus des Goldschmieds haben sich zu meiner Begrüßung zunächst die weiblichen Familienmitglieder versammelt, doch von dem tragischen Geschehen zu erzählen, das ist männliches Privileg. Vater und Großvater rücken Korbsessel in die Mitte des Wohnzimmers, Frauen und Mädchen ziehen sich schweigend auf die Pritschen in den Ecken zurück, nicht ohne zuvor Tee und süßes Gebäck auf einem niedrigen Tischchen anzurichten. Trauer kann pakistanische Gastfreundschaft nicht schmälern. Der Goldschmied öffnet einen Aktendeckel, er will Gerechtigkeit, die Bestrafung der Schuldigen. Eine Menschenrechtskommission half ihm, Briefe an die Behörden zu schreiben. Zumindest der Mörder seines Sohnes wurde nun verhaftet. Der Goldschmied hätte eine Liebesheirat gutgeheißen; er hielt im Namen des Sohns um die Hand des Mädchens an, vergeblich.

Im Schaufenster des kleinen Schmuckladens steht ein Foto des toten Jungen. Dorfbewohner laufen zusammen, als ich den Laden besichtige. Sie unterstützen den Vater und seinen Ruf nach Gerechtigkeit. Solche Parteinahme ist neu; früher schien es in der ländlich-feudalen Struktur unmöglich, gegen die Mächtigeren aufzumucken. 

Weder Pakistans Gesetze noch der Islam rechtfertigen Mord um vermeintlicher Ehre willen. Der grausame Brauch entstand vermutlich in vorislamischer Zeit bei Nomadenstämmen, um die weibliche Sexualität, folglich die Abstammung der Kinder, zu kontrollieren. In einer Kultur, die jede außereheliche Begegnung der Geschlechter mit obsessivem Sex-Verdacht belegt, werden heutzutage Frauen aufgrund haltlosester Anschuldigungen getötet. Es reicht, wenn ein Mann die Frau bloß angesehen hat.  Oder wenn ihr Ehemann von ihrer vermeintlichen Untreue träumte. Hunderte Frauen starben wie die junge Nusrat, weil sie ein Recht wahrnehmen wollten, das ihnen gesetzlich explizit zusteht: sich ihren Mann selbst auszusuchen. Oder sich scheiden zu lassen. Oder ihren Erbanteil zu verlangen.

Was ist Fortschritt in solcher Finsternis? Familienangehörige von Getöteten oder Bedrohten gehen vor Gericht, verteidigen die Unschuld von Tochter oder Schwester. Die obersten Gerichte lassen keine mildernden Umstände mehr gelten. Und die Zeitungen berichten kontinuierlich.

„Die Mauer des Schweigens bröckelt, das Bewusstsein verändert sich", sagt Farida Shaheed - und das ist auch ihr Verdienst. Die Soziologin leitet die Frauenorganisation „Shirkat Gah" (wörtlich: Platz der Teilhabe), die seit Jahren mit Aufklärungskampagnen und Rechtsberatung gegen die fatale Tolerierung der Ehrenmorde kämpft.  „Shirkat Gah" hat mit einer betulichen deutschen Fraueninitiative wenig gemein: Es handelt sich um eine hochprofessionelle Non-Profit-Agentur mit Dokumentationszentren, Forschungsgruppen und diversen Experten, insgesamt 75 Angestellte beiderlei Geschlechts. Akademische Arbeit und Basisarbeit zu verbinden, das ist auf dem indisch-pakistanischen Subkontinent weitaus üblicher als bei uns. Auch die Soziologin Farida Shaheed verkörpert diese Verbindung: seit mehr als 20 Jahren eine Aktivistin für Frauen- und Bürgerrechte, zugleich publiziert sie, tritt auf internationalen Konferenzen auf, berät mal die Regierung, mal die Vereinten Nationen. Ihre Zeit ist knapp bemessen, als Tribut an die Höflichkeit gegenüber einem ausländischen Gast beantwortet sie ein paar meiner Fragen, delegiert dann sofort alles Weitere an ihre Mitarbeiter. Für einen Moment schleicht sich ein Gefühl der Beschämung ein: Wie wenig ist unsere Auseinandersetzung mit der Rolle von Frauen in islamischen Gesellschaften auf das professionelle Niveau solcher Protagonistinnen eingestellt!

Pakistan ist ein Land der Gegensätze, nirgends spiegeln sie sich so grell wie in der Lage der Frauen. Hier mittelalterliche Sitten, dort eine vorbildliche Verfassung, die Diskriminierung verbietet. Hier dumpfeste Unterdrückung, dort vorbildliche Institutionen zur Bekämpfung der Unterdrückung. Und sie entstehen nicht aus dem Staatsapparat, nicht aus der Politik, sondern aus der Zivilgesellschaft.

 

Ein Geschäftshaus in Lahore. Den Aufgang zum zweiten Stock kontrolliert ein Polizeiposten, oben im Flur sitzt ein weiterer Polizist mit Maschinenpistole. Der Schutz gilt zwei prominenten Rechtsanwältinnen und ihren Klientinnen. Dies ist die Kanzlei der Schwestern Asma Jahangir und Hina Jilani. Sie leben seit Jahren mit Morddrohungen, weil sie Frauen gegen die islamischen Strafgesetze und gegen rachsüchtige Familien verteidigen. Religionsführer erklärten die Schwestern in einer Fatwa zu Abgefallenen, die den Tod verdienten. Unterzutauchen kam für die Anwältinnen nicht in Frage; diesen Triumph wollten sie ihren Gegnern nicht gönnen.

Keine Spur von Luxus in dieser international bekannten Kanzlei. Die betagten Klimaanlagen rauschen, Neonröhren streuen graues Licht auf Stapel brauner Aktentüten; aus einer kleinen Küche dringt Essensgeruch. Auf einer gepolsterten Bank warten Mandantinnen, flüstern mit ihren Begleitern, daneben sitzt der Polizist mit der Maschinenpistole auf den Knien, er raucht und schaut melancholisch auf eine weinende junge Frau.

Unvergessen der schlimmste Tag in dieser Kanzlei, als  eine Mandantin vor den Augen der Anwältin Hina ermordet wurde. Die Mutter kam mit einem gedungenen Killer, dem ehemaligen Fahrer der Familie, und ließ ihre Tochter durch einen Kopfschuss hinrichten - weil die sich scheiden lassen wollte. Eine zweite Kugel verfehlte die Anwältin nur knapp. Das blutige Drama hat einen Oberklasse-Hintergrund: Die Mutter Gynäkologin, der Vater ein angesehener Geschäftsmann. Beschützt durch ihren Reichtum und ihre politische Macht wurden sie bis heute nicht belangt.

Eine Mitarbeiterin der Kanzlei bringt mich zu einem Frauenhaus; die Rechtsanwältinnen haben es an einem geheim gehaltenen Ort eingerichtet, um bedrohte Mandantinnen zu verstecken.  Auf ein verabredetes Hupsignal hin wird das Tor zum Hof geöffnet. „Dastak" heißt das Refugium, das bedeutet „anklopfen" - und niemand wird abgewiesen. 35 Schlafplätze in doppelstöckigen Betten, daneben stehen erst gar keine Tische,  damit jederzeit Raum ist für Notlager auf dem Boden. Manchmal leben hier bis zu 80 Frauen auf einmal. Drei Monate dürfen sie bleiben, die Rechtsanwältinnen helfen ihnen, in dieser Zeit entweder die Scheidung zu erwirken oder sich mit ihren Familien zu versöhnen.  In der Küche werden auf heißen Platten Chapattis geklopft, weiche Brotfladen. Geistesabwesende Geschäftigkeit, wo keine Tränen mehr sind; darin ähneln sich alle Frauenhäuser der Welt.

Vor der eigenen Familie fliehen, sich einer Anwältin anvertrauen, das ist unter pakistanischen Vorzeichen ein großer Schritt - ein Bruch mit der mächtigen Tradition des Gehorsams gegenüber den Männern, den Eltern, den lokalen Machthabern, ein Bruch mit allem Erdulden und Verschweigen, über Generationen eingeübt.

       Eine scheue 27jährige trägt einen Verband mitten im Gesicht, das Gesicht wirkt seltsam flach. Man möchte die Ohren verschließen vor der Geschichte, die nun kommen wird.  Die Frau war der Untreue bezichtigt worden, der Ehemann hielt ihre Hände auf dem Rücken fest, während der Bruder ihr die Nase abhackte. „Es geschah um fünf Uhr nachmittags." Das ist alles, was die junge Frau dazu sagt. Sie floh mit ihren drei Kindern. Aus dem Hilfsfond des Frauenhauses wird eine Operation bezahlt, um die Nase zu rekonstruieren. -

 

          Flug in den Norden, zum Hochtal Chitral, in den Ausläufern des Hindukusch. Die betagte Propeller-Maschine quält sich über einen Pass, rechts und links rücken schneebedeckte Kuppen beängstigend nah heran.

Wer in die Berge fliegt, erwartet Landschaft, nicht Fortschritt. Aber schon beim Abflug waren mir selbstbewusste, alleinreisende Frauen aufgefallen. Eine stellte sich forsch als „Gender Officer" vor, eine andere als Ärztin und die Dritte sagte ohne Umschweife: „Komm` zu uns nach Buni!"  Buni! Da endet auf meiner Landkarte die befestigte Straße; nördlich davon nur noch Punkte zwischen Bergen, und darüber liegt wie ein Schlauch der afghanische Vakhan-Korridor, er ist berüchtigt für den Anbau von Mohn.

Also nach Buni.

Ein Ort mit würziger Luft und heiterem Klima. Männer stecken sich Blümchen an ihre deckelförmigen Wollmützen, und galoppierende Kinder tragen Poloturniere ohne Pferd aus, mit Holzstöcken fuchtelnd. Von hier aus wanderte der Fortschritt durch die Berge. Die Leute von Buni sind Ismailiten, das ist eine Sekte am Rande des schiitischen Islam; orthodoxen Muslimen sind sie verdächtig. Ihr Oberhaupt Agha Khan lebt in Frankreich, und von ihm kennen die Leute in Buni diesen Leitsatz: „Wenn Du zwei Kinder hast und nur Geld für die Ausbildung von einem, dann wähle das Mädchen, denn sie repräsentiert die Familie, der Junge repräsentiert nur sich."

In der Familie der 18jährigen Kiran, die mich nach Buni eingeladen hat, werden solche Sätze mit Überzeugung vertreten. Kirans Bruder arbeitet für die Agha-Khan-Stiftung, die in den Bergen Entwicklung und Bildung vorantreibt. Wir sitzen im alten Haus der Familie unter geschnitzten Holzbalken, das Mittagessen wird auf dem Boden serviert, und Kirans Vater erzählt die kurze Geschichte der Frauenemanzipation in diesem Hochtal des Hindukusch.

Anfang der 70er Jahre zogen die ersten Mädchen downcountry  - so nennen die Leute in Buni das restliche Pakistan -, um höhere Bildung zu erwerben. Sie wurden artig begleitet von Brüdern oder Cousins, trotzdem galten diese Familien als Schande für das ganze Tal, vor allem in Nieder-Chitral: Dort leben Sunniten. Wartet nur, eure Töchter werden bald Liebesbriefe schreiben!, höhnten sie. Als von Downcountry die erste Gynäkologin zurück in die Berge kam, verstummten die Kritiker.

Heute dürfen die Mädchen alleine zum Studium nach Downcountry. Manche Väter schicken ihre Töchter sogar ins ferne Karachi, weil die näher gelegenen Universitäten ihnen nicht mehr gut genug sind.

In Buni gibt es keine Ehrenmorde, dafür stehen hier mehrere Schulen, ein Krankenhaus und ein College für Mädchen. Der prächtigste Neubau, von einem Rosengarten umgeben, ist ein Wohnheim für Studentinnen. Sie kommen aus jenen Orten, die auf meiner Karte nur Punkte sind zwischen den Bergen.

Und Purdah, die Abschottung der Frauen? Der Zweck von Purdah, sagen die Leute in Buni, war immer  die Würde der Frau. Die Mittel änderten sich im Laufe der Zeit, und niemand solle die Mittel wichtiger nehmen als den Zweck. Als die Würde.